Versprechen eines Sommers
wusste. Immerhin war sie Lolly. Auch wenn sie nur Sommerfreunde waren, verstand sie ihn besser als jeder andere Mensch in seinem Leben, sogar als er selber. Bei diesem Gedanken ließ er seine Hand sinken. Er hatte seine Gefühle wieder im Griff. Vier Jahre des Zusammenlebens mit Mel hatten ihn gelehrt, wie man das machte. Zeige niemals ein Gefühl, denn irgendein Arschloch wird dafür sorgen, dass du es bereust.
Ich hasse das, dachte er. Ich hasse es, wenn mein Vater trinkt.
„Weißt du, wonach mir jetzt ist?“, fragte er Lolly überraschend.
„Mit der Hand eine Wand einzuschlagen?“, schlug sie vor.
Er konnte ein reuiges Lächeln nicht unterdrücken. Gott, sie kannte ihn wirklich. Dann verschwand das Grinsen, und Worte, die er niemals einer anderen Seele gegenüber äußern würde, sprudelten über seine Lippen, bevor er sie aufhalten konnte. „Ich wünschte, der Scheißkerl würde aufhören“, sagte er. „Ich wünschte, er würde trocken werden und wieder er selber sein. Wenn er das schaffen würde, wäre es mir egal, was er sonst in seinem Leben angestellt hat. Er kann den ganzen Tag Cribbage spielen und Vogelhäuser bauen, solange er nur aufhört zu trinken.“
„Vielleicht wird er das eines Tages.“ Sie schien völlig gelassen ob seiner Worte. „Meine Großmutter Lightsey – das ist die Mutter meiner Mutter – ist auch Alkoholikerin, aber sie trinkt jetzt nicht mehr und geht zu diesen speziellen Treffen ihrer Kirche. Meine Mom tut so, als wäre es ein großes Familiengeheimnis, aber ich weiß nicht, warum. Ich bin stolz darauf, dass es meiner Großmutter besser geht.“
Er wusste nicht, ob er froh darüber war, dass sie ihm das erzählt hatte, oder nicht. Auf der einen Seite gab es ihm Hoffnung, dass sein Dad sich vielleicht auch eines Tages ändern würde. Auf der anderen Seite erschien es so unwahrscheinlich, dass sein Vater sich irgendwann dafür entscheiden würde, mit dem Trinken aufzuhören und zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen, dass Connor sich wie ein Idiot vorkam, auch nur daran zu denken.
„Ich weiß nicht, warum deine Großeltern ihn hierbehalten“, murmelte Connor. „Er ist ja nicht gerade der zuverlässigste Mitarbeiter.“
Lolly runzelte die Stirn. „Hat er dir das nie erzählt?“
„Mir was erzählt?“
„Guter Gott, Connor, du solltest es dir von ihm erzählen lassen. Oder von meinem Granddad. Dein Großvater und meiner waren gemeinsam im Koreakrieg. Dein Großvater hat das Leben meines Großvaters gerettet.“
Connor kannte seinen Großvater, der Edward Davis geheißen hatte, nicht. „Ich wusste, dass er in Korea gefallen ist, als mein Dad noch ein Baby war, aber mehr hat mir mein Vater nicht erzählt.“
„Dann solltest du meinen Granddad fragen. Es gibt da diese Geschichte, wie sie in einer ummauerten Stadt gekämpft haben und dein Großvater ein ganzes Platoon gerettet hat, meinen Granddad inklusive. Als er dann aus dem Krieg nach Hause kam, hat er versprochen, dass er sich immer um die Familie deines Großvaters kümmern wird, egal was auch geschieht.“
Sogar wenn Edward Davis’ Sohn sich zu einem Trinker entwickelt, dachte Connor. Doch irgendwie fühlte er sich, nachdem Lolly ihm die Geschichte erzählt hatte, ein kleines bisschen besser.
„Wie auch immer“, schloss sie in ihrer ein wenig nervigen, kommandierenden Art. „Du solltest meinen Granddad bitten, dir die ganze Geschichte zu erzählen.“
„Vielleicht tue ich das“, sagte er.
Dann schwiegen sie eine Weile. Er ging zu dem Schrank hinüber und öffnete eine weiße, emaillierte Schublade. „Ich habe darüber nachgedacht, mir ein Ohrloch zu stechen.“
„Entschuldige mich?“
Jetzt musste er laut lachen. Sie war so lustig, wenn sie so förmlich war. „Ich habe darüber nachgedacht, mir ein Ohrloch zu stechen.“
„Du bist doch total verrückt.“
„Glaubst du nicht, dass ich mich traue?“ In der Schublade fand er ein steril verpacktes zweischneidiges Skalpell. „Damit sollte es gehen.“ Er fing an, die Packung mit seinen Zähnen aufzureißen.
„Warte.“ Mit vor Panik geweiteten Augen schaute sie ihn an. Ihre Brille saß schief auf der Nase. „Sei nicht dumm, Connor. Du brauchst nicht mehr Löcher in deinem Kopf, als du schon hast.“
„Wenn das so ist, macht eines mehr oder weniger auch nichts aus.“ Er hielt inne und suchte in seiner Tasche nach dem kleinen Silberring, den er seit Wochen mit sich herumtrug. Bislang hatte er jedoch noch nicht den Mut aufbringen können,
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