Versprechen eines Sommers
werden drohte.
Sie hatte die Geschichten geglaubt, die ihr Dad und ihre Großeltern über Camp Kioga erzählt hatten; ein Ort, an dem der Spaß niemals endete. Vollkommen ahnungslos hatte sie die Bilder, die sie von dem idyllischen Rückzugsort an einem unberührten See malten, nie infrage gestellt. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie nach ihrer Ankunft hier irgendetwas finden musste, was sie – abgesehen von der täglichen Arbeit – tun konnte.
Doch wenn sie ehrlich war, war sie gar nicht so gelangweilt. Zum Glück hatten ihre Cousinen Sinn für Humor. Besonders Olivia schien sich bewusst zu sein, dass Daisys Familiensituation im Moment nicht die beste war, um es milde auszudrücken. Es war ermutigend, dass Olivia die Scheidung ihrer Eltern überlebt und sich inzwischen damit abgefunden hatte. Und als Daisys Langeweile und Frustration unerträglich zu werden drohten, hatte sie immer noch ein paar Asse im Ärmel, wie einen Beutel Gras unterm Bett und ein kleines, rotgoldenes Stückchen Haschisch aus dem Libanon. Einer der Vorteile, eine Schule mit einer internationalen Schülerschaft zu besuchen, lag darin, dass viele ihrer Freunde diplomatische Immunität genossen, die sie gut zu nutzen wussten.
Bei dem Gedanken an ihre Freunde in der Stadt stieß sie einen rastlosen Seufzer aus. Sie vermisste es, mit Leuten ihres Alters abzuhängen. Doch gleichzeitig verspürte sie jetzt, wo das letzte Schuljahr bevorstand, auch eine gewisse Erleichterung. Ihre Freunde waren alle so fokussiert und ehrgeizig. Einige von ihnen wussten seit dem Kindergarten genau, was sie einmal werden wollten. Sie alle wollten eine der Eliteuniversitäten oder die Julliard School besuchen, oder gar auf eine der weltberühmten Unis in Übersee gehen, wie an die Sorbonne in Paris. Angesichts der Talente und Ambitionen ihrer Freunde fühlte Daisy sich wie eine totale Versagerin. Sicher, ihre Noten waren gut, sie ging auf eine der besten Schulen des Landes, spielte Klavier, Gitarre und Lacrosse. Aber trotz allem hatte sie kein klares Ziel vor Augen. Sie wusste nicht, wohin es in ihrem Leben gehen sollte. Sie hatte ein Gespräch zwischen ihrer Mom – einer hochkarätigen, internationalen Spitzenanwältin – und ihrer Großmutter belauscht, in dem ihre Mutter gesagt hatte, Daisy wäre wie ihr Vater. Das war kein Kompliment. Auch wenn ihr Vater ein wirklich talentierter Landschaftsplaner war, kam der Reichtum der Familie sicher nicht aus seiner Richtung. Es waren das Familienvermögen und das gigantische Gehalt ihrer Mutter, das die Wohnung in der Upper East Side und die Privatschulen möglich machten. Doch trotz all des Wohlstandes schafften es ihre Eltern nicht, gemeinsam glücklich zu bleiben.
Vielleicht würden sie zusammenbleiben, wenn ich etwas ehrgeiziger wäre, dachte sie. Oder wenn ich eine schreckliche Krankheit bekäme, würde die Familie vielleicht nicht auseinanderbrechen. Die Ideen schwirrten so nutzlos durch ihren Kopf wie Staubflocken. Tief im Inneren wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, die beiden zum Zusammenbleiben zu zwingen. Sie musste einfach ihr Ding durchziehen. Sie hatte einen ganzen Stapel College-Kataloge und -Broschüren. Man erwartete, dass sie diesen Sommer herausfand, bei welchem College sie sich bewerben wollte.
Daisy beugte sich vornüber, um sich die Haare zu kämmen. Dann nahm sie ein Haargummi und machte sich einen Zopf. Schnell schlüpfte sie in ein paar Baumwollshorts mit dem Wort „Pink“ quer über den Hintern gedruckt, zog sich ein Tankshirt an und darüber das Kapuzenshirt ihres Lacrosse-Teams. Nach kurzem Suchen hatte sie auch ihre Flip-Flops gefunden und griff im Hinausgehen automatisch nach ihrem iPod. Dann hielt sie inne und legte ihn mit Bedauern wieder hin. Auch wenn ihr Dad behauptete, zu wissen, was er tat, riet ihr eine kleine warnende Stimme, das gute Stück lieber zu Hause zu lassen. Wenn sie kenterten, wäre ihre Musikquelle für den Sommer für immer versiegt, und dann würde sie sich wirklich erschießen müssen.
Als sie ihr Gesicht wusch und ihre Zähne putzte, bemerkte sie dankbar, dass über der Spüle in der Küche kein Spiegel hing. Es hing überhaupt nirgendwo in der Hütte ein Spiegel. Der Anblick von ihr wäre sicherlich deprimierend. Mit einem letzten, sehnsuchtsvollen Blick auf ihr warmes Bett trat sie hinaus in die Dunkelheit und blieb auf der obersten Treppenstufe der Veranda stehen. Ein bedrückender Nebel hing über dem Camp.
Unter der Treppe lag ein Päckchen
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