Versprechen eines Sommers
Abdruck seiner Lippen auf ihren fühlen, ihn genau schmecken, den Rhythmus seines Herzens spüren? Es war verrückt. Das Leben hatte ihr so viel gegeben, seitdem sie hier in Camp Kioga den Kinderschuhen entwachsen war. Warum fühlte sie sich dann immer noch gefangen in den Momenten mit ihm?
Weil all die Gefühle an dem Tag zurückgekommen sind, als er sie im Haupthaus auf der Tanzfläche in seine Arme gezogen hatte.
Sie seufzte und wandte sich in Richtung Speisesaal, der jetzt als Kommandozentrale für ihr Projekt diente. Wenn der Schlaf schon nicht kommen wollte, konnte sie genauso gut etwas Arbeit erledigen. Sie schaltete das Licht an und ging die Zeichnungen und Pläne durch, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen und an die Wand geheftet waren. Vielleicht sollte sie sich eine Kanne Tee machen und alles noch einmal gründlich durchdenken.
Sie schaute sich gerade den Plan ihres Onkels für die neue Gartenanlage an, als ein lautes Geräusch sie aus ihrer Träumerei riss. In weniger als einer Sekunde hatte sie es als den Motor eines Motorrads erkannt. Oje, dachte sie. Sie war nicht in der Lage, das aufgeregte Zittern ihrer Nerven zu unterdrücken, als sie zum Eingang des Gebäudes ging, um auf ihn zu warten. Sie sah auf die Uhr. Halb elf Uhr nachts. Was wollte er um diese Zeit hier?
Er fuhr vor, schaltete den Motor und das Licht ab und stellte das Motorrad auf den Ständer. „Ich hoffe, dass ich dich nicht geweckt habe“, sagte er, nachdem er den Helm abgenommen hatte.
„Nein, ich war noch wach.“ Neugierig folgte sie ihm hinein. Er roch nach Leder und Wind, und seine Stiefel dröhnten dumpf auf dem Fußboden, als er zum Speisesaal hinüberging. „Es ist heute Nacht kälter, als ich gedacht habe“, sagte er. „Hab mir auf der Fahrt hier rauf die Nüsse abgefroren.“
„Das tut mir leid.“ Sie fühlte sich etwas unbehaglich.
„Hast du eigentlich vor, hier irgendwann in naher Zukunft ein Telefon installieren zu lassen?“
„Das soll nächste Woche kommen.“
„Gut. Ich habe nämlich keine Lust, jedes Mal zehn Meilen in die Berge zu fahren, wenn ich mit dir reden muss.“
„Also musst du mit mir reden?“ Sie setzte sich auf eine Bank. „Was ist los?“
„Ich habe gerade erst erfahren, dass ich den Sommer über unerwarteten Besuch habe.“ Er setzte sich neben sie und legte die Fingerspitzen nachdenklich aneinander. „Mein Bruder Julian.“
„Du machst Witze. Ich erinnere mich an Julian.“ Und ob sie das tat. Er war Connors Halbbruder, und sie waren getrennt voneinander aufgewachsen. Connor bei seiner Mutter in Buffalo, und Julian … Gastineaux – sie erinnerte sich immer noch an den Namen – bei seinem Vater in New Orleans. „Das ist toll“, sagte sie. „Oder nicht?“
„Wer weiß? Immerhin handelt es sich um Julian.“
Er war gute zehn Jahre jünger als Connor, wenn sie sich recht erinnerte, und im Sommer 1997 war er auch im Camp Kioga gewesen. In dem gleichen Sommer, in dem sie und Connor als Betreuer gearbeitet hatten. „Ja, er war schon ein kleiner Teufelsbraten damals“, stimmte sie zu.
„Jetzt ist er siebzehn und gerade mit dem Junior-Jahr an der Highschool fertig. Seitdem meine Mom sich von Mel hat scheiden lassen, lebt sie mit Julian in Kalifornien. Sein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben.“
Für Olivia war die Vorstellung, ihren Vater zu verlieren, etwas, das sie nicht überleben würde. „Wie macht er sich?“
„Er hat es schwergenommen, und ja, er ist immer noch ein wenig schwierig.“
„Also kommt er, um dich zu besuchen.“
„Den ganzen Sommer über. Er wird für mich arbeiten.“
„Das klingt doch gut. Ich bin sicher, dass wir ihn beschäftigt bekommen.“
„Es ist gerichtlich angeordnet worden“, sagte Connor.
„Wie bitte?“
„Julian neigt dazu, in Schwierigkeiten zu geraten. Eine Menge Schwierigkeiten. Nach seinem letzten Kunststückchen hat ihn das Jugendgericht vor die Wahl gestellt: entweder eine Haftstrafe im Jugendgefängnis absitzen oder sich für den Sommer eine andere Umgebung suchen. Und das hier ist so anders als Chino, Kalifornien, wie es nur geht.“
Sie konnte sich nicht vorstellen, einen Teenager mit Problemen aufzunehmen, sogar wenn es der Halbbruder war, den sie kaum kannte. Die Verantwortung musste schwer auf ihm lasten. „Das ist … sehr nett von dir.“
„Tja, ich bin wohl einfach ein netter Kerl.“
„Das warst du schon immer.“ Beinahe hätte sie hinzugefügt, bis du mich gedemütigt hast und weggegangen bist
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