Verstoßen: Thriller (German Edition)
Grenze gekauft hatte. Kauend sah er zur anderen Straßenseite hinüber. Wegen der Passanten machte er sich nicht allzu große Sorgen. Hierzulande waren die Leute viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie auf andere achteten. Falls er überhaupt jemandem auffiel, ein Typ alleine im Auto, dann sah er mit Zeitung und Sandwich aus wie ein Mann, der in seinem Wagen Mittagspause machte.
Allmählich belebte sich die Gegend. Frauen auf Fahrrädern mit Kindersitzen vorn und hinten, in japanischen Blechkarossen oder auch zu Fuß, mit Kinderwagen, kamen auf das niedrige Gebäude zugeschwirrt wie Fliegen auf ein Stück Scheiße.
Der Saab war heute eher spät dran. Eine schlanke Frau stieg aus. Kostüm, lange rote Locken. Für eine Haushälterin oder ein Au-pair-Mädchen viel zu teuer angezogen.
Die Mutter der Zielperson.
Miguel biss noch einmal in sein Sandwich. Beobachtete, wie die Frau selbstbewusst über den Hof ging, mit erhobenem Kinn, und die anderen Frauen keines Blickes würdigte. Noch eine Woche, dachte er, dann würde ihre sichere kleine Welt einstürzen, in der Auffahrt zu ihrem eigenen Haus.
Die rothaarige Frau kam wieder heraus. Sie trug einen Jungen auf dem Arm, knapp einen Meter groß, mit dunkelblauer Baumwollhose und rotem Polohemd. Hellblondes, wirres Haar, leicht gelockt. Ein durch und durch verwöhnter bambino .
Er sah zu, wie die Frau die Zielperson in einem Kindersitz auf der Rückbank festschnallte. Als sie einstieg, ließ er den Golf an.
Langsam fuhr er hinter ihr her.
2
Eisige Kälte kam in den Raum gekrochen. Die trockene, frostkalte Luft brannte ihr in der Nase und in den Augen.
Als hätte jemand die Tür zu einer Kühlzelle geöffnet.
Der junge Mann stand im Türrahmen. Ein unregelmäßiger roter Fleck hatte sich auf der rechten Seite seiner Jacke ausgebreitet. Von dem Einschussloch im Oberarm aus hatte die Kugel durch die Muskelmasse hindurch ihren Weg in den Oberkörper gefunden und war ohne nennenswerten Widerstand durch das weiche Lungengewebe bis ins Herz vorgedrungen. Er war tot gewesen, noch bevor das Geschoss – ein Kaliber .45 aus einer Heckler & Koch Mark 23 mit Schalldämpfer – die andere Seite seines Brustkorbs erreicht hatte.
Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen, vor zehn Monaten.
Er glitt ein Stück näher heran, wie eine widerwärtige Schachfigur, die von einer unsichtbaren Riesenhand auf dem Brett verschoben wurde. Am Fußende blieb er stehen. Vorwurfsvoll.
Das sah sie an seinem finsteren Blick.
Er war tot.
Sie lebte.
Sie kannte ihn nicht einmal. Sie hätte nichts tun können .
Der Mann, der neben ihm auftauchte, war etwas größer, auch etwas älter. Maßanzug, graumeliertes Haar. Von seinem Gesicht war nicht mehr übrig als eine klebrige Masse aus Knochensplittern und geronnenem Blut.
Sie sagten nichts, sie taten nichts. Sie standen einfach nur da.
Dutzendfach hatte sie das schon gesehen.
Sie wusste, was als Nächstes käme.
Die Frau.
Sie hatte ein rundes Loch im Schädel, wie ein monströses indisches Bindi. Ein 9-Millimeter-Geschoss hatte sich zwischen ihre eckigen Brauen gebohrt. Aus nächster Nähe. Das Einschussloch war die Quelle des Bluts, das in bizarren, rostbraunen feinen Strömen über die straffe Haut ihres Gesichts gelaufen und schließlich geronnen war. Hellgraue Augen starrten sie hasserfüllt an. Ihre Stimme hallte laut von den Wänden des Schlafzimmers wider. Ein Gurgeln, das aus dunkler Tiefe zu kommen schien. In einen hysterischen Schrei überging.
»Du bist ein Mörder. Hast du gehört? Ein Mörder!«
Lieber Gott, bitte lass das aufhören .
Die Frau kam näher. Bei jedem Schritt wuchs ihr Haar ein Stück nach, ruckartig, wie gefilmte Bohnengewächse im Zeitraffer. Es wurde immer dunkler und lockiger und fiel ihr in üppigen Wellen über die Schultern. Aus dem faltigen Hals schossen feine Linien hervor und verzweigten sich, bis ihr ganzes Gesicht davon bedeckt war. Abrupt verschwanden sie wieder, und das Gesicht nahm nach und nach eine neue Form an. Noch abscheulicher als das zerschossene Gesicht des Alten. Noch beunruhigender als das hohle, vorwurfsvolle Starren des Jungen. Noch beängstigender als der stahlharte Blick der Frau.
Als würde sie in einen Spiegel schauen. Dieselben dunkelbraunen Augen. Dasselbe Haar.
Es wurde das Gesicht ihrer Mutter.
Und dann fing ihre Mutter an zu schreien.
Susan saß aufrecht im Bett, schweißgebadet. Ihr Herz raste.
Der Schrei war echt.
Er kam aus ihrer eigenen Kehle.
Im
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