Verstoßen: Thriller (German Edition)
Foto hatte er sich seither genauso wenig trennen können wie von dem Colt. Auch wenn er es vernünftigerweise hätte verbrennen sollen.
Drei Männer waren darauf abgebildet. Er strich mit den Fingern über das glatte, dicke Papier. Wie jung sie damals noch waren. Anfang dreißig und noch so naiv. Ihre Gesichter strahlten förmlich vor Enthusiasmus und Selbstvertrauen. Geran Staal, der Bildhauer-Wüstling mit schwarzem Bart wie ein Seeräuber aus dem griechischen Altertum. Er selbst, ein langer bleicher Lulatsch im Oberhemd, mit unsicherem Lächeln und Intellektuellenbrille im Gesicht. Zwischen ihnen ein blonder Mann, gebräunt wie ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat, selbstsicher grinsend.
Eine wenig überzeugend wirkende Zusammenstellung von Freunden. Freunde . Er kaute auf dem Wort herum und lächelte bitter. Ein dunkler Schatten kroch über sein Gesicht.
Nachdem er einen letzten Blick auf das Foto geworfen hatte, legte er es zurück, schloss die Luke und drapierte den Teppich wieder darüber. Setzte sich in den gepolsterten Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und faltete auf der Schreibunterlage die Hände. Betrachtete mit schiefem Blick die vor ihm liegende Lokalzeitung und ihre Schlagzeile. Den Artikel hatte er seit gestern schon unzählige Male gelesen. Er hatte ihn ziemlich nervös gemacht.
Rijkswaterstaat, die oberste Straßen- und Wasserbaubehörde, hatte die Pläne vorangetrieben. Länger als ein halbes Jahr würde es jetzt nicht mehr dauern, bis die Probleme buchstäblich ans Licht kämen. Probleme mit weitreichenden Konsequenzen für alle Beteiligten.
Vor allem die Konsequenzen für ihn selbst machten Walter nervös. Ließ er den Dingen ihren Lauf, standen die Chancen, dass die Sache herauskam, zehn zu eins. Die Pathologen waren heutzutage ziemlich geschickt. Bestimmt waren sie in der
Lage, das Datum zu bestimmen, und wenn sie dann anfingen herumzuwühlen, war es durchaus möglich, dass sie dabei auf ihn stießen.
Es lag so lange zurück. Alle, die damals dabei gewesen waren, hatten geschwiegen wie ein Grab. Als ob es nie geschehen wäre. Aber manchmal bedurfte es keiner Worte, um eine Geschichte zu erzählen.
Er fuhr sich durch sein ergrauendes Haar und kniff die Augen zusammen. Es war nicht schwer sich auszumalen, was passieren würde. Sein Amt als Richter müsste er niederlegen. Damit konnte er zur Not noch leben. Aber im Windschatten des ganzen Medienspektakels würde Valerie ihn verlassen. Da war er sicher.
Sie würde ihn nie mehr sehen wollen.
Ein letzter Blick auf die Schlagzeile. Grimmig biss er sich auf die Unterlippe. Er wusste, was er zu tun hatte.
4
Die Weiden und schmalen Polderwege lagen direkt hinter dem historischen Stadtwall von Den Bosch, keine fünf Minuten von Susans Wohnung entfernt. Maier war schon eine Dreiviertelstunde in ruhigem Tempo von etwa elf Stundenkilometern gelaufen. Inzwischen befand er sich auf dem Rückweg. Sein Körper arbeitete wie eine gut geölte Maschine.
Er genoss die langsame Steigerung der Geschwindigkeit, den eintönigen Widerhall seiner Schritte auf dem Boden, seinen Körper, der bereit war, alles zu geben. Wie das Blut sich noch durch die kleinsten Äderchen hindurchpresste, um zusätzlichen Sauerstoff anzuliefern, sodass die Haut zu glühen anfing. Täglich lief er eine Runde von zwölf Kilometern. Manchmal hängte er noch ein paar dran, je nachdem, wie unruhig er sich fühlte und wie lange es dauerte, bis die Endorphine ihm jene Euphorie verschafften, von der er zunehmend abhängig wurde.
Normalerweise war das Laufen eine hervorragende Methode, um den Kopf frei zu bekommen. Heute ließen sich seine Gedanken einfach nicht in den Hintergrund drängen.
Die Unruhe nahm zu. Es hatte wenig Zweck, das zu leugnen. Sie plärrte in seinem Innern vor sich hin wie ein leise gedrehtes Radio. Ein Geräusch, das ihm kaum auffiel, solange er mit irgendetwas beschäftigt war, das ihm aber, wenn er abends hellwach im Bett lag, wie ein Nebelhorn durch den Kopf dröhnte.
Er versuchte, dieser Unruhe rational beizukommen, indem er sich klarmachte, dass er seinen Platz im Leben nunmehr gefunden hatte. Mit fünfunddreißig hatte er alles erreicht, was er
sich wünschen konnte. In Susan hatte er jemanden gefunden, mit dem er fast alles teilen konnte. Seine Gedanken, sein Handeln und sein Bett. Schon das ist eine Seltenheit und Grund genug, verdammt gut auf sie aufzupassen. Sie waren gesund, und finanzielle Sorgen hatten sie auch nicht. Insgesamt
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