Verstoßen: Thriller (German Edition)
nächsten Augenblick spürte sie, wie zwei Arme sie umfassten. Ein nackter Brustkorb, warm, beruhigend.
»Ganz ruhig.« Sil Maier strich ihr übers Haar.
Langsam öffnete sie die Augen, voller Angst, dass es noch nicht vorbei wäre, dass sie noch einmal in das Gesicht ihrer Mutter schauen müsste – in eine schrecklich entstellte, grässliche Erscheinungsform dieses Gesichts.
»Wieder dieser Alptraum?«
Sie nickte.
»Verdammt«, sagte er leise.
»Tut mir leid.«
»Du brauchst dich für gar nichts zu entschuldigen.« Er löste sich von ihr und wälzte sich aus dem Bett. Reckte sich. Gähnte. »Möchtest du was trinken? Ein bisschen fernsehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon, wirklich. Ist ja nur ein Traum.«
»Es ist mehr als nur ein Traum, und das weißt du.«
Mit feuchten Augen sah sie ihn an. Sie zitterte.
Er setzte sich wieder neben sie aufs Bett.
»Schau mich nicht so an«, sagte sie.
»Wie?«
»So mitleidig. Als ob ich zu bedauern wäre. Als wär ich so ein Idiot mit einem Problem. Ich brauche kein Mitleid, okay? Es wird schon langsam besser. Das letzte Mal, dass ich diesen Alptraum hatte, ist eine Woche her. Am Anfang jede Nacht, jetzt nur noch einmal in der Woche. Das ist ein Fortschritt.«
Er gab ein Brummen von sich.
»Es kommen auch ein paar Elemente aus Tanz der Teufel darin vor«, sagte sie schnell. »Den hab ich gesehen, als ich vierzehn war, und ich war schwer beeindruckt. Also …«
»In dem Jahr, in dem auch deine Mutter verschwunden ist.«
Sie nickte. »Daher kommt das bestimmt. Ein Sammelsurium von Ereignissen, von denen mein Unbewusstes anscheinend meint, dass ich sie noch verarbeiten muss. Aber es ist alles nicht wahr, und das weiß ich. Du brauchst nicht zu denken, dass ich durchdrehe. Es wird schon wieder.«
Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und schaute sie ernst an. »Es kommt dir aber so vor, als ob es wirklich wäre.«
»Ja, im Traum. So wirklich, als könnte ich die Hand ausstrecken und sie berühren.« Plötzlich fing sie an zu weinen. Sie konnte es nicht mehr unterdrücken. Langes Schluchzen. Schniefen.
Er legte seine Arme um ihre bebenden Schultern. Sein Kinn auf ihren Kopf.
Sie litt an posttraumatischem Stress. Um das zu erkennen, brauchte man kein Psychologie-Diplom.
Und das Bittere war, dass es keinen Psychologen gab, dem sie mit dieser Geschichte hätte kommen können, ohne dass noch am selben Tag ein bis an die Zähne bewaffnetes Sonderkommando in ihre Wohnung einfiele. Denn es war nicht nur ihre Mutter, die als Geist aus grauen Urzeiten nachts an ihrem Bett Stellung bezog. Und erst recht war die Mutter nicht der unmittelbare Auslöser für diese lebhaften Angstträume, die Susans Nachtruhe und ihre Nerven in den vergangenen Monaten so oft auf die Probe gestellt hatten.
Er konnte ihr nicht helfen. Sie musste selbst damit fertig werden. Der einzige Beitrag, den er leisten konnte, war, sie zu lieben. Und mit ihr zu hoffen, dass es eines Tages vorbei wäre und sie wieder normal funktionieren könnte.
Er spürte ihren Körper leicht zittern und zog sie fester an sich. Roch einen Hauch von Shampoo in dem langen braunen Haar, das ihr schweißnass im Gesicht klebte. Küsste ihren Haaransatz und strich ihr über den Rücken. Spürte, wie sein Körper auf ihre Nähe reagierte, und verfluchte sich im Stillen dafür. Sex mit ihr war großartig. Aber es war der falsche Moment.
Er versuchte, an etwas anderes zu denken. »Bist du sicher, dass du nicht kurz aufstehen willst? Etwas trinken? Soll ich dir einen Tee kochen?«
Sie nickte vage und wischte sich mit der Hand die Nase ab.
Er ging ins Wohnzimmer. Der Holzboden unter seinen bloßen Füßen knarrte. Er knipste das Licht an und ging weiter in die offene Küche. Sah auf die Uhr an der Wand. Drei Uhr.
Er füllte den Wasserkocher, schaltete ihn ein, und während das Wasser zu säuseln begann, durchsuchte er die Schränke nach Tee. Susan hatte keinerlei Ordnungssystem, alles lag durcheinander. Fündig wurde er schließlich in einem Hängeschrank hinter den Tellern.
Er lehnte sich an die Spüle und ließ den Blick durch das Wohnzimmer wandern. Gelbe Couchgarnitur, Fußbodendielen aus Kiefernholz, an der Wand ein paar Kunstposter und Vergrößerungen ihrer fotografischen Arbeiten. Darunter auch eine Strandfoto aus Hurghada: symmetrische Reihen von Sonnenschirmen, die aussahen wie Soldaten in Reih und Glied, neben verwaisten Liegen vor dem Hintergrund einer untergehenden Sonne. Eine grobkörnige
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