Versuch über die Müdigkeit
brannten uns das Sprechenkönnen, die Seele, aus. Wären wir dann doch tatsächlich imstande gewesen, getrennte Wege zu gehen! Nein, jene Müdigkeiten bewirkten, daß die im Innern Entzweiten außen, als Körper, zusammenbleiben mußten. Dabei kam es dann, daß die beiden, von dem Müdteufel besessen, selber zum Fürchten wurden.
Zu fürchten von wem?
Jeweils vom andern. Jene Art Müdigkeit, sprachlos, wie sie bleiben mußte, nötigte zur Gewalt. Diese äußerte sich vielleicht nur im Blick, der das andre entstellte, nicht bloß als einzelne Person, sondern auch als das andere Geschlecht : Häßliches und lächerliches Weiber- oder Männer-Geschlecht, mit diesem eingefleischten Frauengang, mit diesen unverbesserlichen Männerposen. Oder die Gewalt ereignete sich versteckt, an etwas Dritten, im wie beiläufigen Erschlagen einer Fliege, im wie zerstreuten Zerrupfen einer Blume. Es geschah auch, daß man sich selber wehtat, indem die eine sich die Fingerkuppen zerbiß, indem derandre in eine Flamme griff; indem er sich die Faust ins Gesicht schlug, indem sie sich, wie ein Kleinkind, nur ohne dessen Schutzschichten, platt auf die Erde warf. Manchmal fiel ein solcher Müder den mit ihm Mitgefangenen, den Feind oder die Feindin, aber auch leibhaftig an, wollte ihn aus dem Weg schlagen, versuchte sich mit hingestammelten Schmähungen von ihr freizuschreien. Diese Gewalt der Paares-Müdigkeit war immerhin noch der einzige Ausweg aus ihr; denn danach gelang in der Regel wenigstens das Auseinandergehen. Oder die Müdigkeit machte Platz für eine Erschöpfung, in der man endlich wieder Luft kriegte und sich besinnen konnte. Einer kehrte dann vielleicht doch zum andern zurück, und man starrte einander verwundert an, noch durchzittert vom gerade Geschehenen, außerstande, es zu begreifen. Daraus konnte dann wieder ein Anblicken des anderen werden, aber mit ganz neuen Augen: »Was ist uns nur da zugestoßen, im Kino, auf der Straße, auf der Brücke?« (Man fand auch die Stimme wieder, das auszusprechen, unwillkürlich gemeinsam, oder der junge Mann für die junge Frau, oderumgekehrt.) Insofern mochte solch über die zwei Jungen verhängte Müdigkeit sogar eine Verwandlung bedeuten: der unbekümmerten Verliebtheit des Anfangs in den Ernst. Keinem kam es in den Sinn, den andern zu beschuldigen für das, was er gerade getan hatte; es war statt dessen ein gemeinsames Augenaufgehen für eine von den einzelnen Personen unabhängige Bedingtheit in dem Zusammensein, Zusammen»werden«, von Mann und Frau, eine Bedingtheit, die man früher zum Beispiel »eine Auswirkung der Erbsünde« genannt hat, und heutzutage ich weiß nicht wie. Wäre es den beiden gelungen, dieser Müdigkeit zu entkommen, so würden sie in deren Erkenntnis, wie nur je zwei einer Katastrophe Entronnene, hernach zeitlebens – hoffentlich! – zusammengehören, und so eine Müdigkeit würde ihnen nie wieder zustoßen, hoffentlich. Und sie lebten miteinander glücklich und zufrieden, bis etwas anderes – viel weniger rätselhaft, viel weniger zu befürchten, viel weniger zu bestaunen als jene Müdigkeit, zwischen sie träte: das Alltägliche, der Kram, die Gewohnheiten.
Aber gibt es die entzweienden Müdigkeiten denn nur bei Mann und Frau, und nicht ebenso zwischen Freunden?
Nein. Sooft ich in der Gesellschaft eines Freundes eine Müdigkeit spürte, war das überhaupt keine Katastrophe. Ich erlebte sie als den Lauf der Dinge. Wir waren schließlich nur auf Zeit zusammen, und nach dieser Zeit würde jeder wieder seiner Wege gehen, im Bewußtsein der Freundschaft auch nach einer matten Stunde. Die Müdigkeiten unter Freunden waren ungefährlich – die zwischen den jungen, meist auch noch nicht lang miteinander umgehenden Paaren dagegen eine Gefahr. Anders als in der Freundschaft stand in der Liebe – oder wie jenes Voll- und Ganzseinsgefühl nennen? – mit dem Losbrechen der Müdigkeit plötzlich alles auf dem Spiel. Entzauberung; mit einem Schlag schwanden die Linien aus dem Bild des andern; er, sie ergab binnen einer Schrecksekunde kein Bild mehr; das Bild der Sekunde zuvor war bloß eine Luftspiegelung gewesen: So konnte es von einem Moment zum andern zwischen zwei Menschen aus sein – und dasam meisten Erschreckende war, daß es dadurch auch mit einem selber aus zu sein schien; man fand sich selber so häßlich, oder, ja: nichtig wie den andern, mit dem man doch eben noch spürbar eine Daseinsweise verkörpert hatte (»ein Leib und eine Seele«); man wollte
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