Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
den Boden. Sie spürt Scherben und Papier. Leise wie eine Katze kriecht sie weiter, bis sie das Ende des Raums erreicht und, die Arme eng um den Körper geschlungen, in Schockstarre verfällt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie auf das schmale Viereck, durch das sie gekommen ist. Der verräterische Mond, die hinterlistigen Wolken – sie weisen den Weg zu ihrem Versteck. Der Wind heult über die Gräber. Die Himmelsdecke reißt auf. Das silberne Licht gleitet wie ein riesiger Scheinwerfer über den Friedhof, die Kreuze, die steinerne Treppe, den geborstenen Marmor – sein Abglanz streift die Wände der Gruft. Uralte Marmorplatten, verwitterte Buchstaben.
»Ein Name!«
Mathilde, liest sie.
» Pani Häwelmann?«
»Mathilde«, flüstert sie.
»Mathilde Häwelmann?«
Sie nickt. Jemand streicht über ihre Hände. Es ist Paulina, die sich zu ihr aufs Bett setzt und sie mitfühlend ansieht.
»Mathilde Häwelmann«, notiert die Schwester. »Adres?«
»Berlin«, flüstert die Patientin. »Ich will zurück nach Berlin.«
7
Wenn man einen Termin in der Keithstraße hat, ist man pünktlich. Dass man dann trotzdem fast eine halbe Stunde auf den unbequemen Holzbänken der Mordkommission warten muss, ist wohl Teil des großen Spiels.
Um halb elf konnte ich endlich zu Vaasenburg. Er hatte mittlerweile einen Flachbildmonitor und ein Laptop, davon abgesehen sah das Büro genauso aus wie beim letzten Mal. Das war einige Jahre her, und ich erinnerte mich nicht gerne daran.
»Nehmen Sie Platz. Einen Kaffee?«
Hinter ihm stand eine dieser Pad-Maschinen. Wahrscheinlich von zu Hause mitgebracht, denn nach wie vor glaubte die Polizeipräsidentin, für Mitarbeiter wie Besucher müsse dieses lauwarme Pulvergesöff reichen, das die Automaten im Flur in Plastikbecher mit einem Geräusch ausspuckten, das ähnlich appetitlich klang, wie der Inhalt schmeckte.
»Gerne.«
Vaasenburg war ein schlanker, durchtrainierter, hochgewachsener Mann Anfang vierzig. Immer noch trug er die Haare kurz und kantig wie ein Brikett. Die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Ein jugendlicher Körper mit einem vor der Zeit gealterten Gesicht. Er sah immer noch gut aus. In seiner Gegenwart kam ich mir ständig übergewichtig vor.
Er stand auf, nahm zwei Becher von einem Tablett auf dem Aktenregal und fing an zu reden, während er den Kaffee zubereitete.
»Wir sind unter drei. Ist das klar?«
»Unter drei« bedeutete nach den Statuten der Berliner Pressekonferenz, dass das Gespräch absolut vertraulich war, nur als Hintergrundinformation gedacht und außerdem niemals zitiert werden durfte. Vaasenburg hatte oft mit Journalisten zu tun. Er war der Leiter der Mordkommission. Die Hälfte seines Berufslebens hatte er hinter sich. Er war ein Mann, der den Gedanken brauchte, dass wenigstens die zweite Hälfte nicht vergeblich sein würde.
»Unter drei«, sicherte ich ihm zu.
»Frau Hoffmann wird von den polnischen Behörden mit europäischem Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf lautet Beihilfe zum Mord. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurde der Hamburger Gelegenheitsarbeiter Horst Schwerdtfeger auf dem Friedhof von Janekpolana erschlagen. Nach Aussage des Tatverdächtigen, eines …« Er stellte die erste Tasse auf den Rost und drehte sich kurz zu mir um. »… Jacek Zieliński«, sagte er, wartete auf eine Reaktion, die nicht kam, und setzte sein Tun mit einem beherzten Druck auf den Startknopf fort. »Übrigens in Berlin unter der Adresse von Frau Hoffmann gemeldet …«
Ich atmete tief ein. Das war schlimmer als befürchtet.
»Frau Hoffmann war in der Tatnacht bei ihm.«
»Dann ist sie in erster Linie Zeugin.«
»Das muss Frau Hoffmann den polnischen Behörden erklären. Sie ist seit Freitag vergangener Woche nicht mehr in ihrer Wohnung aufgetaucht, das haben die Kollegen bereits herausbekommen. Ihr Handy konnte zum letzten Mal in der Tatnacht getrackt werden, und nun raten Sie mal, wo.«
»Auf dem Friedhof von Janekwieauchimmer?«
»Janekpolana. Herr Zieliński sitzt bereits in Poznań in Untersuchungshaft. Er verweigert die Aussage oder hat einen Filmriss, eins so bedauerlich wie das andere. Nur an Frau Hoffmanns Anwesenheit konnte er sich erinnern und hat seiner Anwältin den entscheidenden Hinweis gegeben.«
Wofür ich dir einen Tritt in den Arsch verpassen werde, Jacek.
»Da der Staatsanwalt wie auch die Ermittlungsbehörden der Meinung sind, Zieliński überführt zu haben, sieht es in diesem Zusammenhang für unsere
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