Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Ich mochte diese Ärzte. Ich mochte dieses Krankenhaus.
»Bitte«, sagte ich. »Nur für einen Moment.«
»Es ist nicht Frau Hoffmann.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie hat einen anderen Namen. Ähnlich, aber anders.«
»Aber die Haare … rot? So lang? Schmal, circa fünfzig Kilo? Klein wie ein Spatz?«
Die Dame verkniff sich ein Lächeln. »Ähnlich, aber anders. Sie schläft. Sie können nicht zu ihr.«
»Was hat sie?«
»Ich darf es Ihnen nicht sagen. Kommen Sie morgen wieder.«
Ich nickte. »Nach wem soll ich fragen?«
Sie warf einen letzten Blick auf den Monitor. »Nach Mathilde Häwelmann, Zimmer fünfhundertneun.«
»Häwelmann?«
»Häwelmann«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Wie Theodor Storm.«
Ich bedankte mich und verließ das Treppenhaus. Bevor ich die Holztür zur Straße erreichte, blieb ich stehen. Das Licht in dem gläsernen Empfang erlosch. Ich zählte bis hundert. Dann folgte ich der breiten Einfahrt, bis ich in einem begrünten Hof stand. Ich beschloss, den Eingang zum linken Flügel zu nehmen, über den man in ein steinernes Treppenhaus mit abgetretenen Stufen und gelber Ölfarbe an den Wänden gelangte. Das eiserne Geländer mit seinem hölzernen Lauf schien mir noch aus dem Erbauungsjahr zu stammen. Ich sah hoch. Fünf Stockwerke. Mitten in der Nacht. Ich musste mit ihr reden, bevor die Polizei es tat. Sie wusste, was geschehen war.
Häwelmann. Mathilde Häwelmann. Wahrscheinlich wusste sie es doch nicht.
Kopfschüttelnd begann ich den Aufstieg.
Es war dunkel in Zimmer 509. Die Luft war schwül, eine Mischung aus Schweiß, Nachttopf und Desinfektionsmittel. Ich unterdrückte den Impuls, mir irgendetwas vor die Nase zu halten oder das Fenster aufzureißen. Vier Betten, vier Frauen. Ich konnte mir denken, was geschehen würde, wenn ich mich aufs Lager der Falschen setzte.
Ein schnarchender Berg zur Linken, dahinter ein schmales, junges Mädchen, fast noch ein Kind. Das Licht, das die Straßenlaternen unten verbreiteten, reichte in dieser Höhe gerade dazu aus, die Umrisse der Gestalten unter den dünnen Decken auszumachen. Die Frau rechts hatte sich frei gestrampelt. Das Oberteil des Bettes war hochgestellt. Schwer nach Atem ringend warf sie den Kopf von der einen auf die andere Seite. Ich blieb wie angewurzelt stehen und wartete, bis ihr Traum sie wieder in ruhigeres Fahrwasser geleitete.
Hinten rechts am Fenster also. Das war gut. Es bedeutete mehr Licht. Vorsichtig trat ich auf das Bett zu und erblickte Marie-Luise. Ich erschrak, wie sehr sie sich verändert hatte. Die Wangen hohl und eingefallen, die Lippen blutverkrustet. Hämatome im Gesicht. Schnittwunden. Die Nase spitz und weiß, die Augen dunkel umschattet. Ihre Hände waren bandagiert. Regungslos wie eine Puppe lag sie da, die Beine unter dem dünnen Laken steif und gerade. Ich wagte nicht, mich zu setzen. Blieb stehen und sah sie nur an. Spürte, wie ich zornig wurde, wie Wut sich in mir regte, Wut und Hass auf den, der ihr das angetan hatte. Jacek. Wer sonst außer Jacek konnte das gewesen sein?
Bis zu diesem Moment war ich von seiner Unschuld überzeugt gewesen. Doch Marie-Luises geschundener, zerschlagener Körper löste in mir eine Lawine von Gefühlen aus. Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen. Sie war einfach aus meinem Leben gegangen nach dieser einen letzten Nacht vor zwei Jahren. Ich erinnerte mich noch an ihr trauriges Lächeln und ihren Blick, mit dem sie sich verabschiedet hatte. Es geht nicht mit uns. Nicht mit, aber auch nicht ohne. Küss mich. Halt mich. Lass mich allein.
Zwei Jahre hatte der trügerische Frieden gehalten. Zwei Jahre, in denen ich froh gewesen war, mich um meine eigenen Probleme kümmern zu können, statt um Marie-Luises Katastrophen. Ich hatte geglaubt, sie würde es schaffen. Es war ein Fehler gewesen. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen.
Sie blinzelte. Rümpfte die Nase. Versuchte in einer müden Bewegung, die linke Hand zu heben, schaffte es nicht.
»Vernau?«, flüsterte sie. »Ich hab dein Rasierwasser nie gemocht.«
Eine kleine Welle der Freude flutete mein Herz. Vorsichtig setzte ich mich auf das Bett, sorgsam darauf bedacht, ihren rechten Arm nicht zu berühren.
»Schschsch«, erwiderte ich.
Die Geräusche der anderen Damen im Zimmer blieben gleich. Ich beugte mich zu ihr hinab. Sie roch nach essigsaurer Tonerde. Das war auch nicht besser.
»Leise«, flüsterte ich. »Was ist passiert?«
Sie riss die Augen auf und starrte mich an. »Ich
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