Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
weiß, wer du bist.«
»Fein. Wir sollten unbedingt herausfinden …«
»Ich weiß, wer du bist!« Sie sah mich an, als wäre ich der Teufel und mir würde gerade ein drittes Horn mitten auf der Stirn wachsen.
Vorsichtig berührte ich ihren Arm. »Das erleichtert vieles. Trotzdem müssen wir dich hier herausbringen. Gegen dich läuft ein Haftbefehl.«
»Vernau. Joachim Vernau. Horror. Vollidiot. Verpiss dich.«
Es stand offenbar schlimmer um sie, als ich angenommen hatte. Vielleicht hatte ihr Kopf auch etwas abbekommen.
»Du kannst hier nicht bleiben. Wir müssen weg. Über die Grenze, und zwar so schnell wie möglich. Ich will nicht, dass du wie Jacek in einem polnischen Knast landest.«
»Jacek?« Ihre Augen rundeten sich, sie dachte nach. Das Ergebnis fiel erfreulicher aus als die Erinnerung an mich. Aber nicht sehr. »Dieser Mistkerl. Hat er endlich seine Sachen abgeholt?«
Die schmale Gestalt in dem Bett gegenüber warf sich von einer Seite auf die andere. Wir sollten verschwinden. Sofort.
»Kannst du aufstehen?«
Sie wollte das Laken zurückwerfen, aber sie konnte mit ihren bandagierten Händen nur schwer greifen. Bei dem Versuch sich aufzusetzen sank sie mit einem Stöhnen zurück.
»Himmel, was ist denn passiert?«
»Leise«, zischte ich. »Wo sind deine Sachen?«
Ich blickte mich um. Es gab keine Schränke. Neben jedem Bett stand ein Stuhl, an der Wand war ein Kleiderhaken befestigt. An allen Haken hing etwas, nur nicht an dem von Marie-Luise.
Sie sah an sich herab. Ich half ihr hoch, nach einigen Mühen konnte sie wenigstens sitzen. Die Beine baumelten über der Bettkante, nackt. Wie befürchtet waren auch sie übersät mit Hämatomen und Schnitten. Auf den schlimmsten Wunden klebten Pflaster.
»Deine Sachen?«, fragte ich noch einmal. So konnten wir unmöglich das Krankenhaus verlassen. Jeder Windstoß würde ihre unbedeckte Kehrseite bloßlegen.
»Ich weiß nicht.« Ihre Stimme klang verwaschen, undeutlich.
Der erste Schreck ließ nach und damit auch die aufputschende Wirkung dieser Überraschung mitten in der Nacht. Wahrscheinlich hatten die Ärzte sie mit Schmerzmitteln und anderem vollgepumpt. Ich hoffte, sie würde die Fahrt nach Berlin verschlafen.
Ich zog meine Anzugjacke aus und hängte sie ihr um die Schultern. Das war auch nicht besser.
»Sie können dich doch nicht so eingeliefert haben? Wo ist deine Tasche? Dein Ausweis? Deine Schuhe?«
Ich wollte sie hochziehen, aber sie rutschte aus meinen Armen wie ein Fisch.
»Keine Ahnung«, murmelte sie.
Das war nicht Marie-Luise. Das war jemand anders in ihrer grauenhaft zugerichteten Gestalt. Ich wusste nicht, wann die Schwestern die Runde machten. Daher wollte ich nur eins: dieses Haus und dieses Land verlassen. Natürlich würden die deutschen Behörden sie ausliefern müssen. Aber bis dahin konnte sie die Zeit in einer gemütlichen Untersuchungszelle in einer Berliner JVA verbringen. Wenn ich es überhaupt so weit kommen lassen würde. Das alles war ein Alptraum, und wir mussten so schnell wie möglich daraus erwachen.
»Nehmt das hier«, flüsterte eine Stimme.
Erschrocken fuhr ich herum. Das dünne Mädchen, fast noch ein Kind, kletterte aus seinem Bett und zog etwas vom Haken, das aussah wie ein Kleid.
»Danke.« Zögernd nahm ich das Geschenk an. »Das ist deins?«
» Tak – ja. Beeilt euch. Heute war die Polizei hier. Sie wollen sie holen, sobald sie … gotowy do transportu …«
»Transportfähig ist?«
»Ja. Mathilde?«
In sich zusammengesunken, wie ein kaputter Hampelmann, saß Marie-Luise auf dem Bett. Es war seltsam, diesen altmodischen Namen aus dem Mund des Mädchens zu hören. Noch irritierender, dass sie damit Marie-Luise meinte.
»Helfen Sie mir«, flüsterte das halbe Kind.
Ich versuchte, Marie-Luise das Kleid über den Kopf zu streifen und nicht hinzusehen, was sonst noch mit diesem Körper geschehen war. Der Stoff war aus Jersey, wir kämpften eine Weile damit herum.
»Warum hilfst du uns?«, fragte ich das Mädchen.
»Ich mag keine policja . Hat sie es getan?«
»Was?«
»Das Schlimme. Das, warum die Polizei hier war.«
»Nein«, sagte ich bestimmt und versuchte, Marie Luise auf die Beine zu stellen, damit unsere unbekannte Retterin den Stoff in Richtung Knie ziehen konnte. »Was weißt du?«
»Nur das, was sie erzählt, wenn sie schläft.«
»Und was ist das?«
Das Mädchen war fertig. Im fahlen Widerschein der Straßenlaternen wirkte ihr Gesicht geisterhaft weiß. Große, dunkle
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