Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
verschlossenen Fensterläden und zugezogenen Vorhängen. Sie sahen genauso aus wie die brandenburgischen Weiler und Kirchspiele: Dorfstraße, Anger, Friedhof, Gotteshaus. Ab und zu eine flackernde Leuchtreklame.
Dann breite neue Straßen. Es war kurz nach halb elf und die Nacht vollkommen, als ich in Poznań eintraf. Zuverlässig führte mich das Navigationsgerät in die ul. Grunwaldzka vor ein majestätisch wirkendes Gebäude, das mit Sicherheit in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einem repräsentativen Zweck gedient hatte.
Es war bogenförmig gebaut, ein Grundriss ähnlich einem Bumerang, die abgerundete Fassade geschmückt mit schlanken ionischen Säulen und gekrönt von treppenartigen vertikalen Verzierungen, wie man sie oft im Art déco antraf. Die Klinik lag ein Stück von der Hauptstraße zurückgesetzt, und der so gewonnene Platz war für Feuerwehr und Krankenwagen reserviert. Allerdings nutzten ihn um diese Zeit auch Privatfahrzeuge. Ich stellte meinen dazu und ging zum Haupteingang. Zwanzig Meter weiter, die Straße am rechten Bumerangflügel entlang, stand ein Polizeiauto. Ich konnte nicht erkennen, ob jemand hinterm Steuer saß.
Die hölzerne Tür öffnete sich mit einem Ächzen. Der Gang war breit genug, um eine Ambulanz passieren zu lassen. Ein Neonlicht zu meiner Linken wies den Weg zu einer steinernen Treppe. »Przyjęcie/Zapowiedź« stand auf einem Schild. Es sah nach Empfang oder Rezeption aus. Ich stieg hinauf und fand mich in einem langen Gang wieder, müde erleuchtet von milchigen Hängelampen, linker Hand eine verglaste Kabine, davor auf einem Brett eine Klingel, wie sie in kleinen Läden oder Hotelrezeptionen stehen. Weit und breit war niemand zu sehen.
Ich klingelte und wartete.
Es war zweiundzwanzig Uhr achtunddreißig.
Schritte, gedämpft von Gummisohlen, die leise quietschten, näherten sich. Eine Tür im hinteren Teil des verglasten Raumes wurde geöffnet, und eine ältere Frau in weißem Kittel und mit drahtiger Figur näherte sich der Sprechluke.
»Good evening« , versuchte ich es auf Englisch. »My name is Joachim Vernau and I am looking for …«
»Niemiec?« , fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern und ärgerte mich, dass ich in einem Land, das achtzig Kilometer hinter der Berliner Stadtgrenze begann, noch nicht einmal Guten Tag und Auf Wiedersehen sagen konnte.
»Deutschland?«
» Yes . Ja. Berlin. Ich suche eine Freundin. Eine Frau. Ende dreißig, rote Haare. Marie-Luise Hoffmann.«
Ihr altersloses Gesicht, umrahmt von braungrauen, kurzgeschnittenen Haaren, verzog sich zu einem Anflug des Bedauerns.
»Keine Auskünfte.«
»Ich bin ihr … ihr Mann«, brachte ich hervor und betete, dass Marie-Luise niemals Wind von dieser Lüge bekommen würde.
»Ehemann?«
»Ja«, log ich dreist weiter. »Urlaub. In … Zielona Góra. Dann war sie weg, plötzlich. Ich mache mir Sorgen.«
»Polizei?«
»Da war ich schon. Sie ist weg. Verschwunden. Bitte helfen Sie mir.«
Es gab noch zwei weitere Krankenhäuser. Aber dieses schien mir das größte und am schnellsten erreichbare zu sein. Der Polizeiwagen vor der Tür beunruhigte mich. Wenn die Frau, auf die Marie-Luises Beschreibung passen sollte, tatsächlich hier lag, dann hatten sie ihr längst die Fingerabdrücke abgenommen. Dann waren die Daten in den Computer eingespeist. Dann war es eigentlich schon zu spät.
»Wie war der Name?«
»Hoffmann, Marie Luise.«
Sie trat zu einem Computermonitor, den ich erst in dem Moment entdeckte, in dem sie ihn aus dem Schlafmodus weckte. Sie scrollte etwas herum und schüttelte dabei ein ums andere Mal den Kopf. Ich hoffte, dass sie von der Nachtschicht war und noch nichts von dem Fahndungsersuchen gehört hatte.
»Nein, tut mir leid.«
»Wirklich nicht? Die Polizei sucht meine Frau bereits. Vielleicht kann sie sich nicht an ihren Namen erinnern.«
»Die Polizei war schon hier.«
Das Herz fiel mir in die Magengrube wie ein zwei Kilo schwerer Eisbrocken. Aus, vorbei. Sie hatten sie. Eher als ich.
»Konnten aber nichts machen, weil sie schläft und die Hände …« Die Schwester suchte nach dem passenden Wort. »Verbunden«, sagte sie schließlich. »Verletzungen. Morgen ist es möglich, morgen wird gewechselt. Dann identifiziert.«
»Morgen«, murmelte ich.
Der Eisbrocken schmolz. Die Polizei war also unverrichteter Dinge wieder abgezogen, weil die Ärzte offenbar verboten hatten, die Verbände abzunehmen und eine verwirrte, desorientierte Person auszuliefern.
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