Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
einem gläsernen Palast nahe am Schiffbauerdamm, mit direkter Sicht auf die Bundespressekonferenz und das Bundesministerium der Finanzen. Kurze Wege, dachte ich, als ich im Konferenzraum am Fenster stand und darauf wartete, entweder in Sinters Büro gelassen zu werden – gutes Zeichen – oder ihm an diesem großen, für zwölf Personen ausgelegten Tisch gegenüberzusitzen – schlechtes Zeichen. Ich merkte, wie die Müdigkeit begann, aus meinen Gliedern langsam in meinen Kopf zu steigen. Die junge Frau, deren Namen ich just in dem Moment vergessen hatte, in dem sie ihn mir sagte, hatte mir einen mittelmäßigen doppelten Espresso serviert und mich dann allein gelassen.
Zehn nach zwei. Sinter grillte mich . Das war zumindest schon einmal geklärt. Ich befand mich in seiner Höhle, hier war er das Alphatier. Ich wünschte mir einen zweiten Espresso, vierfach dieses Mal, hatte aber keine Lust, hinauszugehen und die Dame in diesem Labyrinth von gleichen Gängen und gleichen Türen wiederzufinden.
Ich nahm mir eine Flasche Mineralwasser. Obwohl die Sonne noch immer hinter den Wolken verschwunden war, hatte sie den Raum aufgeheizt. Es roch nach Teppichkleber und Kunststoff.
Um zwanzig nach zwei wurde die Tür aufgerissen, und ein nach Rasierwasser duftender Mann mit feuchten Wangen trat ein. Er war etwas größer als ich, zweifellos sportlich, trug feinsten Zwirn und Maßschuhe. Seine Haare waren kurz und eisgrau. Erstaunlicherweise machte diese Farbe sein Gesicht jünger. Er musste Ende fünfzig sein, aber er wirkte frisch und jugendlich.
»Herr Vernau?«
Er reichte mir die Hand und erwiderte meinen Druck herzhaft.
»Cordt Sinter?«, fragte ich, obwohl ich ihn sofort erkannt hatte.
»Ja. Nehmen Sie Platz. Meine Mitarbeiterin sagte mir, es geht um Hagen und Camerer. Ist das richtig?«
Er zog den Stuhl am Kopfende des Tisches weg, um sich zu setzen. Ich wählte einen zwei Plätze von ihm entfernt.
»Ja. Ich bin Anwalt, und meine Mandantin …«
»Bevor wir weiterreden: Ich bin befugt, im Namen meiner Mandanten jeden Erpressungsversuch abzulehnen. Jeden. Falls Sie noch einen Kaffee wünschen? Ich betrachte unser Gespräch damit als beendet.«
Dafür hättest du dich nicht hinsetzen müssen.
Ich holte die Vollmacht von Mariechen und Wolfgang hervor. Sie hatten sie mit der Hand geschrieben.
Hiermit bestätigen wir, dass Herr Anwalt Fernau unsere Interessen vertreten darf. Hochachtungsvoll.
»Frau Maria Fellner ist die Schwester von Horst Schwerdtfeger. Die Halbschwester. Horst Schwertfeger ist letzte Woche gestorben. Unerwartet und gewaltsam. Das macht den Verlust um ein Vielfaches schmerzhafter. Frau Fellners Verwandtschaftsverhältnis zu dem Verstorbenen ist das gleiche wie das ihres Bruders zu John und Sabine Camerer.«
»Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen. Es existiert kein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Camerers und …«
Ich drehte die Vollmacht um, damit er sie lesen konnte. Sie war glücklicherweise so allgemein gehalten, dass ich damit wahrscheinlich sogar das bescheidene Konto der Fellners räumen könnte. Mit ihr bekam ich Zugang zu all den verschwiegenen und vertuschten Vereinbarungen, mit denen sich die Camerers den Rücken freigehalten hatten. Vielleicht würde Sinter mich nicht sofort ins Herz schließen. Aber nach diversen Nadelstichen, Einschreiben, Prozessdrohungen und – ganz wichtig! – dem kleinen Wink mit der Presse würde er seine Zurückhaltung irgendwann aufgeben.
»… den Fellners.«
»Das ist richtig. Jedoch nur auf den ersten Blick. Da Horst Schwerdtfeger nach dem Ableben seines Vaters ebenso erbberechtigt war wie Sabine und John und er keine Kinder hinterlässt, steht Maria Fellner in der Erbfolge …«
»Verzeihen Sie. Uns ist nicht bekannt, dass Helmfried Hagen noch einen Sohn hatte.«
»Dann fragen Sie beim Sozialgericht in der Invalidenstraße nach. Er hat seinem Sohn Unterhalt gezahlt. Urteilsbegründung und Aktenzeichen liegen vor.«
»Er konnte mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld machen, was er wollte. Auch Bedürftige unterstützen. Das hat er immer und sehr diskret getan. Er war ein Mann mit einem großen Herzen.« Sinter nickte bedächtig, als riefe er sich sämtliche positiven Charaktereigenschaften des alten Hagen noch einmal ins Gedächtnis. »Dennoch, von einem weiteren Sohn außer seinem ehelichen ist uns nichts bekannt. Wir kennen das. Es geschieht oft, dass sich nach dem Tod von vermeintlich reichen Leuten vermeintliche Erben
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