Versunkene Inseln
Ich sah mich noch nach etwas anderem um, irgend etwas, das ich ihm noch mitgeben konnte, doch mir fiel nichts weiter ein.
„Kommt zur Beisetzung“, forderte ich die anderen über den Interkom am Fallschacht auf. Ich setzte mich neben Benito und legte nach einer Weile die Hand auf die Decke, über Benitos Schulter. Wasser klatschte gegen die Schacht wände.
Jemand sank durch den Zugangsschacht hinab. Es war Tobias, und ich war noch immer so benommen, daß mich das nicht einmal überraschte. Er zögerte, schritt dann langsam über den Obergang des Raumes, kam herunter und blieb ein paar Meter vor mir stehen. Er streckte den Arm aus.
In seiner Hand lag Benitos winzige Skulptur. Sie bebte und wankte im Takt zu Tobias’ Fingern, und ich wandte den Blick von der Skulptur ab und sah in sein Gesicht. Seine Wangen waren weiß, die Muskeln gespannt, und unter seinen Augen zeigten sich rote Ränder.
„Ich dachte …“ brachte er hervor und zögerte. Die Skulptur zitterte. „Ich dachte, er hätte dies vielleicht gerne dabei.“
Er straffte seine Gestalt, als ich an ihn herantrat, doch er ließ mich das Spielzeug aus seiner Hand nehmen. Schweigend starrten wir es beide an.
„Ist es immer so?“ flüsterte Tobias.
Ich konnte nicht antworten.
„Tia … wird es auch dir so ergehen?“
„Ich hoffe nicht“, gab ich leise zurück.
„Oder mir?“
Ich sah überrascht auf. Seine Stimme klang bitter.
„Nein, mir nicht“, fügte er hinzu und wich zurück. „Ich werde es nicht zulassen, und du kannst mir ein solches Schicksal nicht aufzwingen.“
Ich schüttelte den Kopf. Seine Augen glitzerten wie die des verrückten Fanatikers in Australien. „Tobias, bitte. Können wir nicht einen Waffenstillstand schließen? Können wir nicht wenigstens aufhören, Feinde zu sein?“
„Nein“, sagte er, und seine Stimme war kühl und schneidend. „Nein. Du bist eine Mißgeburt, Tia. Ich nicht.“ Er stürzte der Steigröhre entgegen, warf sich ohne zu zögern hinein und schwebte hinauf.
Ich nahm das kleine Spielzeug, schob es behutsam in die orangefarbene Decke hinein und legte es neben Benito. Mir war nicht klar, warum Tobias die Skulptur hierhergebracht hatte, aber mir wurde vage bewußt, daß er verrückt war. Es war nicht weiter wichtig. Im Augenblick war nur eines wirklich von Bedeutung: Benitos regloser Körper und das Fehlen von Worten, die ich ihm auf seine letzte Reise mitgeben konnte.
Welche Ansprache hält man bei der Totenfeier für einen Unsterblichen? Sal hatte nie ein Wort gesagt. Was sagt man, um einem Buckligen das letzte Geleit zu geben? Ich versuchte, mich an einige der Dinge zu erinnern, die ich vor Jahren in der Bibliothek gelesen hatte. Doch mir fielen nur Bruchstücke ein, nichts Angemessenes, nichts Zusammenhängendes. Also sagte ich letztendlich gar nichts, strich einmal kurz über die Decke und schob Benito über den Rand des Tauchschachtes. Er ging sofort unter, und ein paar Luftblasen markierten den Weg, den er in die Tiefe nahm, das war alles.
Ich vernahm ein gurgelndes Ächzen hinter mir. Doch als ich mich umdrehte, sah ich nur Pauls Unterleib, der rasch durch die Steigröhre hinauf schwebte und meinem Blick wieder entschwand.
44
„Sie haben den Verstand verloren!“ rief Greville aus. Ich beachtete ihn nicht und fuhr damit fort, mich in den Naßanzug zu zwängen. Er trat nervös von einem Bein aufs andere und rang die Hände. Als ich die Manschetten schloß, traten Tobias und Jenny in die Tauchkammer.
„Tia, muß das unbedingt sein …?“ fragte Jenny. Ich ignorierte sie ebenfalls. Tobias sah mich schweigend an, schritt dann zu seinem Spind und begann damit, seine Ergkapsel-Ausrüstung zu montieren.
„Gütiger Himmel, Sie nicht auch noch“, brachte Greville hervor. „Wissen Sie eigentlich, auf was Sie sich da einlassen?“
Tobias’ volle Lippen kräuselten sich mürrisch und eigensinnig, und er gab keine Antwort. Greville war beinahe außer sich und tanzte mit hochrotem Gesicht hin und her.
„Ein Ergfeld ist bereits zusammengebrochen, und das könnte mit Ihrem ebenfalls passieren“, sagte er, und seine Stimme überschlug sich schrill. „Es ist ein großes Risiko, ein sehr großes Risiko!“
„Das nehme ich auf mich“, knurrte Tobias. „Wenn sie runtergehen kann, dann kann ich es auch.“
„Tobias …“ begann Jenny.
„Ich habe gesagt, ich gehe runter!“ rief er. „Also laß mich in Frieden, ja?“
Jenny schüttelte den Kopf und stürzte auf die
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