Vertrauen statt Dominanz - Wendt, M: Vertrauen statt Dominanz
können. Dafür leben sie durch den erhöhten Energiebedarf, den andauernden Stress der Fortpflanzung und der Verteidigung ihrer Stuten sowie durch das ständige Verletzungsrisiko bei Kämpfen mit anderen Hengsten aber auch in großer Gefahr und unter großem Druck. Für einen starken, kräftigen, erwachsenen Hengst kann das die beste Strategie sein, doch es wäre nicht im Sinne der Natur, nur einzelne Hengste zur Fortpflanzung kommen zu lassen. Die genetische Vielfalt, die es der Tierart Pferd ermöglicht, sich an unterschiedliche und wechselnde Umweltbedingungen anzupassen, wäre schon nach wenigen Generationen stark ausgedünnt.
Das Verhalten ein und desselben Pferdes kann mal ungestüm und mal zärtlich sein. Pferde passen ihre Umgangsformen an den jeweiligen Partner und an die Situation an.
Es sollte also auch für andere, nicht so kräftige oder junge Hengste Möglichkeiten geben, das „Spiel“ des Lebens zu spielen. Es muss einen Mechanismus geben, der für mehr Ausgeglichenheit sorgt. Daher schließen sich manche Hengste zu Junggesellengruppen zusammen, die sich in der Nähe der Herden aufhalten und auf Momente warten, sich unbeobachtet paaren zu können.
Diese Strategie kann für viele Hengste nicht nur als Junghengst, sondern das ganze Leben lang sehr Erfolg versprechend sein. Ein solcher Hengst hat so nicht die ganzen „Arbeiten“ und „Pflichten“, die das Leben als Haremshengst mit sich bringt, und kann trotzdem den Schutz einer Gruppe genießen und sich auch noch ausreichend fortpflanzen. Eindrucksvoll belegt wird dieses Phänomen dadurch, dass der Haremshengst Studien zufolge eben nicht immer der biologische Vater der Fohlen ist, sondern nur zu einem gewissen Prozentsatz. Ein beträchtlicher Anteil der Fohlen wurde beim „Fremdgehen“ der Stuten mit Hengsten der Junggesellengruppen gezeugt. Auch die Stuten wissen einen fähigen Haremshengst als Beschützer des Nachwuchses zu schätzen, sie entscheiden sich allerdings bei der Wahl des Vaters ihrer eigenen Nachkommen nicht immer für diesen.
Eine weitere erfolgreiche Strategie kann für einen jungen Hengst ebenfalls darin bestehen, möglichst lange unauffällig unter dem Schutz des Haremshengstes zu existieren, ohne ihn herauszufordern, und dann bei dessen Tod an seine Stelle zu treten.
Die Spiele-Theorie lässt sich auf sämtliche Bereiche des Lebens anwenden. Es wird also immer eine große Anzahl von Individuen geben, die sich den üblichen „Spielregeln“ gemäß verhalten, aber ebenso gibt es immer einen bestimmten Prozentsatz, der das „Spiel“ nach seinen eigenen Regeln spielt. Aus diesem Grund gibt es auch in der Natur eine große Bandbreite möglicher Verhaltensoptionen und Wesenszüge bei den einzelnen Pferdepersönlichkeiten.
Die „Verwandten-Selektion“
Der Begriff der Verwandten-Selektion oder Kin-Selection stellt ein grundsätzliches Prinzip der Natur der Familienbeziehungen dar. Um den Fortbestand der Tierart Pferd und die Weitergabe des eigenen genetischen Materials zu sichern, sollte ein Pferd möglichst viele Nachkommen zeugen. Da aber ein Stutfohlen immer auch zu 50 Prozent das gleiche genetische Material wie seine Geschwister besitzt, so ist es durchaus sinnvoll, auch für deren Überleben zu sorgen. Wir sehen diese scheinbar uneigennützige Haltung der Stuten darin, dass sie sich hingebungsvoll mit um die später geborenen Kinder ihrer eigenen Mutter kümmern. Tatsächlich wird so ganz eigennützig das eigene genetische Material gesichert und die natürliche Selektion wird in Richtung der eigenen Verwandten beeinflusst.
Es stellt sich ganz allgemein die Frage, ob Pferde nur eigennützig, also egoistisch, oder aber auch im Sinne der Gemeinschaft, also altruistisch, handeln können. Die grundsätzliche Theorie, dass jedes Lebewesen um die Verbreitung der eigenen Gene kämpft, würde nahelegen, dass sich jedes Tier ausschließlich egoistisch verhalten sollte. In manchen Fällen, wie schon im genannten Fall der Verwandten-Selektion, ist es jedoch sogar im Sinne der Evolution sinnvoller, nicht egoistisch, sondern scheinbar altruistisch zu handeln. Dieser Fall tritt auch bei dem sogenannten reziproken Altruismus auf. Die Tiere handeln wechselseitig uneigennützig, nach dem Motto „tit for tat - wie du mir, so ich dir“. Dabei gibt die Natur den Pferden die Möglichkeit, sich gegenseitig zu helfen und sich später zu revanchieren. Besonders deutlich wird dieses Prinzip beim gegenseitigen Mähnekraulen. Ein
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