Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
Jahrhunderts resultierte die zunehmende Unsicherheit auch darin, dass manche den etablierten Richtungen des Denkens und den Kirchen den Rücken kehrten und sich stattdessen einer freieren und stärker mystisch und spirituell gefärbten Religiosität zuwandten. Wir dürfen uns also nicht vorstellen, dass die Menschen in der geradlinigen und klaren Weise dachten und glaubten, die ihnen der Dorfpfarrer oder der Bischof in der Stadt nahelegten. Selbst wenn die Kirche – ob sie nun lutherisch, calvinistisch oder katholisch war – strenge Grenzen zog für das, was bei Tageslicht und öffentlich ungestraft gesagt werden durfte, nahmen sich die Menschen allem Anschein nach größere Freiheiten, wenn sie sich in den eigenen vier Wänden befanden. Die strenge Rechtgläubigkeit ist zum Teil eine Täuschung. Wie immer unterzogen die Menschen die Botschaft von oben einer strengen Prüfung, verwarfen einiges, nahmen anderes an und fügten das Ganze zu neuen, unerwarteten Vorstellungs-und Denksystemen zusammen. Die Vielfalt war enorm. Die Vorstellungswelt unter schwedischen Bauern in dieser Zeit war zum großen Teil protestantisch, natürlich, aber sie war teilweise auch katholisch – so rief man gern die Jungfrau Maria an – und stückweise geradezu vorchristlich – es gab reichlich dunkle Opferriten, Grabbeigaben und ehrfürchtiges Reden über Asen, Drachen und Trolle. Die hohen Damen und Herren, die sich an Europas Höfen versammelten, dilettierten gern in verschiedenen okkulten Wissenschaften: Astrologie selbstverständlich, denn das war gewissermaßen der Renner dieser Zeit, aber auch Chiromantie (die antike Kunst des Handlesens), Ziffern-und Buchstabenmystik verschiedenen Zuschnitts sowie Alchimie (ein natürlicher Favorit bei vielen Fürsten, nicht allein, weil diese ständig von Geldnöten bedrängten Herren den Gedanken, ohne große Anstrengungen Blei in Gold zu verwandeln, selbstverständlich reizvoll fanden, sondern auch, weil viele Alchimisten Pioniere in der Metallurgie und im Bergbau waren). Auf dem Kontinent gab es viele Denkrichtungen, die zu echten Bewegungen geworden waren und mehr oder weniger im Untergrund lebten, unnachsichtig verfolgt an einem Ort, leidlich geduldet an einem anderen. Da waren die zu einem praktischen Kommunismus hingezogenen Wiedertäufer, die die Erbsünde und jeden Gedanken an eine Staatskirche ablehnten; da waren ihre Ableger, die pazifistisch gesinnten Mennoniten mit ihrer strengen Kirchenzucht und ihrer Weigerung, Kriegsdienst zu leisten oder Eide zu schwören; da waren die Rosenkreuzer, jener mysteriöse Orden, der um die Jahrhundertwende große Aufmerksamkeit erregt hatte und von dem es hieß, dass er außer seinen Visionen eines kommenden paradiesischen Glücks und tiefen Einsichten in verborgene Dinge unermessliche geheime Reichtümer besitze; da waren auch die Paracelsisten mit ihrer Toleranz, ihrem Misstrauen gegenüber jedem Dogmatismus und ihren fein gesponnenen Träumen von einem durch die Wissenschaft veredelten und erneuerten Menschen. Und von den Paracelsisten ausgehend hatte sich die Weissagung vom «Löwen aus dem Norden» verbreitet.
Die Weissagung verwandelte sich rasch und wurde in einer Unzahl von Varianten durchgespielt, doch die Grundidee war einfach: In einer Zeit, wenn Plagen und Heimsuchungen die Menschheit bedrängen, wird ein Löwe aus dem Norden kommen, der die kleine Schar der Gerechten um sich sammelt und danach den Adler – will sagen: den Kaiser und das Haus Habsburg – für immer besiegt, wonach er ganz Europa und Teile von Afrika und Asien unter seine Herrschaft bringt. Danach werden Frieden und Eintracht über die Welt kommen, und die Menschen können sich jubelnd niederlassen, um die nahe bevorstehende Ankunft des Herrn und den Jüngsten Tag zu erwarten.
Zum Zeitpunkt der Landung des schwedischen Heeres – fast auf den Tag genau acht Jahre, bevor Erik Jönsson selbst dorthin reiste – hatte diese Weissagung eine enorme Verbreitung gefunden, und nicht nur in Deutschland. Sie hatte auch den Weg nach Schweden und bis in die engsten Kreise um den hellhörigen Gustav Adolf genommen, der vielleicht persönlich von diesen beeinflusst wurde, als er seinen Entschluss, in den großen Krieg einzugreifen, durchsetzte. Es gab auch Leute, die nicht wollten, dass er die Weissagung und ihre Botschaft vergaß: So hatte der französische Gesandte Hercule-Girard Charnacé an einem Februartag 1630 in Västerås vor Gustav Adolf beteuert, dass das deutsche Volk auf
Weitere Kostenlose Bücher