Verzaubert
nüchternen Vertrautheit, und mit einem Mal überkam mich Zuneigung zu diesem simplen Apparat, denn im Gegensatz zum Rest meines Lebens hatte er sich seit dem Tag zuvor nicht bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Als ich vor zwei Tagen das Theater betrat, war ich begierig darauf gewesen, die Hauptrolle eines Off-Broadway-Musicals zu übernehmen. Mittlerweile hatte ich meine Produzentin gegen mich aufgebracht, das Ensemble im Stich gelassen und ich fürchtete, der Teufel würde mich holen, wenn ich weiterhin bei der Show mitmachte.
Konnte es überhaupt noch schlimmer werden?
Das Telefon klingelte erneut und ich zuckte zusammen. Aus einem Reflex heraus ging ich wieder dran. Es war meine Mutter. »Natürlich«, murmelte ich. »Alles kann
immer
noch schlimmer werden.«
»Wie bitte?«
»Hallo, Mom.«
»Esther, dein Onkel Ben und Tante Rachel kommen nächsten Monat nach New York. Ich habe ihnen gesagt, dass du ihnen Tickets für deine neue Show besorgst.«
»O Mom«, stöhnte ich. »Nein. Bitte nicht …«
»Sie führen dich zum Abendessen aus.« Sie versuchte es mir schmackhaft zu machen. »In irgendein Restaurant, das du dir sonst nicht leisten kannst.«
Ich seufzte. »Ich kann dir dazu jetzt nichts sagen.«
»Weshalb nicht?« Meine Mutter drückt sich stets sehr gewählt aus, aber manchmal wird ihre Stimme von dem lebenslangen Verdacht überschattet, dass ich nach meiner Geburt im Krankenhaus vertauscht wurde. »Ich kündige es dir doch rechtzeitig an.«
»Es ist gerade kein guter Zeitpunkt, um über die Show zu reden.«
»Warum?«, wiederholte sie. »Was hast du angestellt?«
Darin besteht das Talent meiner Mutter: Sie verfügt über die unheimliche Fähigkeit, dass ich mich immer schlechter fühle, als ich es ohnehin schon tue.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete ich. »Und heute Morgen habe ich einfach keine Zeit, lange zu telefonieren.«
»Heute Morgen? Es ist nach elf.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Esther, bist du etwa noch im Bett?«
Woher wusste sie das immer? Ich setzte mich ruckartig auf, als könne sie mich über die ganze Entfernung von ihrem Einfamilienhaus in Madison, Wisconsin, hinweg beobachten. »Ich war lange auf«, setzte ich zu meiner Verteidigung an.
»Hattest du eine Verabredung? Ein netter junger Mann?«
»Nein.«
»Hm. Du hast also noch immer keinen Freund?«
»Nein, Mom.«
»Du solltest vielleicht nicht so wählerisch sein. Oder willst du alt und einsam enden?«
»Ich bin erst siebenundzwanzig«, antwortete ich müde. »Aber wenn du weiter an mir herumnörgelst, wird mich das sehr schnell altern lassen.«
»Ich sage ja nur …«
»Mom, ich habe gleich einen Termin, ich kann jetzt nicht.«
»Na ja, wenn du früher aufstehen würdest …«
»Wir reden nächste Woche über die Tickets. Ich muss jetzt los.«
»Na schön«, sagte sie betont geduldig. »Ach, noch was, Süße. Dein Vater bittet darum, dass du ihm die Kritiken über die Show zuschickst. Vor allem, wenn du darin erwähnt wirst.«
»Kritiker gehen nicht auf einzelne Chorsängerinnen ein, Mom.«
»Wie dem auch sei, dein Vater möchte die Kritiken trotzdem gern lesen.«
»Kann er sie sich nicht online ansehen?«
»Es wäre nett, wenn
du
sie ihm schicken würdest, Liebes.« Ihr Tonfall ermahnte mich, keine schlechte Tochter zu sein.
»Na schön«, antwortete ich. »Ich werde ihm ein paar schicken.«
Mein Vater und ich kommunizieren meist über meine Mutter. Er hat mich lieb, aber er weiß einfach nicht, was er mit mir reden soll. Mom leitet ein Jugendzentrum, Dad ist Geschichtsprofessor – keiner von beiden versteht, wie es passieren konnte, dass ich Schauspielerin wurde. Trotzdem versuchen sie, so gut es ihnen möglich ist, meine Entscheidung zu unterstützen. Das rechne ich ihnen hoch an.
»Ich muss jetzt los, Mom«, sagte ich noch einmal.
»Ach übrigens, hast du etwas von deiner Schwester gehört?«
»Nein.« Ein Gespräch mit meiner Mutter zu beenden, ist ein langwieriger Prozess.
»Ich auch nicht«, sagte sie niedergeschlagen.
Wie es die Familientradition verlangte, erinnerte ich meine Mutter kurz daran, dass meine ältere Schwester immer sehr beschäftigt war und unter großem Druck stand. Ruth ist Verwaltungsleiterin einer Klinik in Chicago und Mutter zweier Kinder. Die seltenen Gespräche, die wir miteinander führen, drehen sich stets darum, wie überlastet und erschöpft sie ist. Mit Ruth zu sprechen, ließ meine eigene Situation immer etwas weniger schlimm erscheinen:
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