Verzeihen
Schilff den Eindruck, sie seien beide umgeben von Stille.
Das Blau ihrer Augen verblüffte ihn. Vielleicht weil er geglaubt hatte, sie wären dunkel. Schwarz wie ihre Haare. Er verzog den Mund zu einem kargen Lächeln. Täuschte er sich oder reagierte sie mit einem scheuen Blick?
»Zwei Wodka, darf ich mal?« Die Bedienung drängte sich zwischen sie. Und stellte die Gläser auf die Theke. Wortlos verschwand sie wieder.
Schilff nahm ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche. Verwundert schaute die Frau seine Hand an. Dann griff sie nach dem Taschentuch. Und bedeckte damit ihren Mund. Schilff strich ihr mit dem Finger über die feuchte Wange. Sie wehrte sich nicht. Zerknüllte das Taschentuch.
Er hob sein Glas. »Trinken wir!«
Die Frau leckte sich die Lippen. Zog die Stirn in Falten. Und blinzelte mehrmals hintereinander.
»Ich bin schon betrunken«, sagte sie. Ihre Stimme war tief.
»Ich auch«, sagte Schilff.
»Dann los!«, sagte sie. Und leerte ihr Glas in einem Zug.
»Noch zwei«, sagte Schilff zum Koch.
»Einen Moment!«, sagte die Frau. Sie legte die Hände nebeneinander auf den Tresen. Und betrachtete sie. Schilff fand ihre Finger dünn und bleich. Doch die Frau schien zufrieden zu sein. Eine Weile saß sie so da. Dann streckte sie die Arme in seine Richtung. Ratlos wartete er ab.
»Wie finden Sie meine Hände?«, fragte sie.
»Ihre Wodkas.« Diesmal blieb die Bedienung hinter der Theke, als sie die Gläser hastig hinstellte.
Schilff merkte, dass er schwankte. Wie im Flugzeug. Schon in Heathrow, wo er umgestiegen war, hatte er sich an jedem Geländer festhalten müssen. Und das hätte er jetzt gern wieder getan.
Hastig umklammerte er die Kante des Tresens. Beobachtet von den Köchen und der Bedienung, die solche Spiele wie das zwischen der besoffenen Frau und dem besoffenen Kerl nicht ausstehen konnten.
»Bitte?«, fragte Schilff. Sie streckte ihm immer noch die Hände hin. »Ja, Ihre Hände…« Ein leichtes Stechen durchzog seine Brust. Dann stellte er fest, dass er die ganze Zeit den Reißverschluss seiner Jeansjacke nicht aufgezogen hatte. Deshalb war ihm so heiß. Deshalb riss er jetzt den Mund auf. Ähnlich wie die Frau während des Liedes. Und atmete widerwillig die stinkende Luft ein.
»Sie sind ein Feigling«, sagte die Frau.
Schilff reichte ihr das Wodkaglas. Und weil sie keine Anstalten machte es zu nehmen, stellte er es auf ihre flache linke Hand.
Wie auf ein Tablett. Ihre Hand zitterte. Das Glas wackelte. Schilff erhob wieder sein Glas.
»Auf Ihre Gesundheit!«, sagte er.
Der Satz traf sie wie eine Ohrfeige. Ihr Kopf zuckte. Schilff hatte keine Ahnung, was mit ihr passierte. Sie ließ die Arme fallen.
Klirrend zerschellte das kleine Glas auf dem Boden. Alle Gäste blickten auf.
»Jetzt reichts!«, rief die Bedienung.
Wie auf Befehl rutschte die Frau vom Barhocker und schlang den Mantel enger um sich. Schilff hatte das Glas noch in der Hand. Er blickte in die Runde der Gäste, die endlich mit einem Ereignis belohnt wurden. Und er musste plötzlich an den Grund denken, weswegen er in diese Stadt gekommen war. Mit einer heftigen Bewegung trank er den Wodka aus. Und knallte das Glas auf die Theke.
»Zahlen!«
»Das Glas kostet zehn Mark«, sagte die Bedienung. Sie hielt eine rote Schaufel und einen kleinen Besen in der Hand.
Aus den Lautsprechern tönte ein Song von Cher. Über die hab ich eine smarte Story geschrieben, schoss ihm durch den Kopf.
Die Bedienung schob Schilff beiseite. Gebückt kehrte sie ein paar Scherben zusammen. Und kickte den Rest unter einen Barhocker.
»Das ist einfach widerlich«, sagte sie und wusch sich im Ausguss die Hände. Und ließ die Rechnung ausdrucken.
»Zusammen, oder?« Sie legte den Zettel auf den Tresen.
»Meinen Wein zahl ich selber«, sagte die Frau. »Was macht das, vier Schoppen?«
»Sie hatten fünf«, sagte die Bedienung.
Schilff gab ihr achtzig Mark. Mit zusammengepressten Lippen nahm sie das Geld. Steckte die Scheine gemächlich in ihre Geldtasche. Und holte, noch langsamer, acht Markstücke heraus, die sie demonstrativ auf dem Tresen nebeneinander reihte.
Schilff schlug den Webpelzkragen seiner Jacke hoch. Und beachtete die Münzen nicht. Irritiert verstaute die Bedienung die Geldtasche neben der Kasse.
»Meinen Wein zahl ich selber«, wiederholte die Frau.
»Diesen nicht«, sagte Schilff.
»Doch!«, sagte sie. Aber sie bewegte sich nicht. Die Arme baumelten an ihr herunter. Der Mantel, den sie gerade noch fest zugehalten
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