Verzwickt chaotisch
Stuhl. Ehe Herr Rübsam weiterlesen konnte, stürmte ich in zwei geschmeidigen Sprüngen über die Bankreihen nach vorne – Elena konnte gerade noch ihren Kopf einziehen – und riss ihm die Blätter aus der Hand.
»Das ist nicht von mir!«, protestierte ich. Doch Leander hatte meine Handschrift so täuschend echt abgekupfert, dass in Herrn Rübsams Augen kein Zweifel an der Herkunft dieses Aufsatzes bestehen konnte. Er tätschelte mir nur väterlich den Kopf.
»Kleinmädchenträume, Luzie … Die sind doch erlaubt. Ich finde es großartig, dass du überhaupt einen Aufsatz geschrieben hast – einen grammatikalisch korrekten dazu, ohne einen einzigen Rechtschreibfehler! Unterhaltsam ist er ebenfalls.«
Wütend stapfte ich zu meinem Platz zurück, hob meinen Stuhl an und setzte ihn mit Schwung auf Leanders Hand ab. Er wand sich jaulend darunter hervor. Herrn Rübsams Überraschung war mir egal geworden. Die gesamte Klasse lachte über mich. Ich hätte im Boden versinken können. Um in zehn Jahren am anderen Ende der Welt wieder aufzutauchen.
»Ich wusste gar nicht, dass du auf Johnny Depp stehst«, hauchte Sofie mir ins Ohr. »Das ist ja süß. Er ist zwar schon ziemlich alt, aber …«
»Ich steh nicht auf Johnny Depp«, zischte ich. »Der Aufsatz ist nicht von mir. Da muss sich jemand einen Scherz erlaubt haben!«
Sofie blinkerte mich zweifelnd an. »Ist schon gut, Luzie. Ich hab auch mal einen Brief an Robert Pattinson geschrieben.«
Ich hatte keine Ahnung, wer Robert Pattinson war, aber eines stand fest: Ich musste Leander in Zukunft besser kontrollieren. So konnte das nicht weitergehen.
»Jetzt beruhigt euch mal wieder.« Herr Rübsam klopfte sacht mit den Fingerknöcheln auf sein Pult. »Bedankt euch bei Luzie. Und lacht sie nicht aus! Wer weiß, vielleicht schreibt sie später einmal Romane und wird damit reich und berühmt. Wer weiß …«
Billy prustete laut. Serdan konnte gar nicht aufhören, mich anzustieren. Er war völlig perplex – zu Recht! Leander hingegen hockte mit geschwellter Brust auf dem Boden und sonnte sich in seinem Erfolg. Den ich ausbaden musste. Unverschämtheit. Mein Gesicht brannte vor Scham. Ich musste puterrot sein. Wahrscheinlich konnte man gar keinen Unterschied mehr zwischen meinen Haaren und meiner Haut sehen.
Ich schaffte es nicht, Herrn Rübsam weiter zuzuhören, weil ich mir ununterbrochen Racheszenarien ausmalte. Ich bekam nur mit, dass wir auf Klassenfahrt gehen durften, in irgendeine Jugendherberge in der Nähe von Bad Dürkheim. Normalerweise hätte ich mir ein Loch in den Bauch gefreut, denn wir waren noch nie auf Klassenfahrt gewesen. Das würde sozusagen der erste Urlaub meines Lebens werden. Denn die Urlaube auf dem Bauernhof aus Kindertagen zählten nicht. Doch dieser erste Schultag war so mies gelaufen – kein Seppo und gleich darauf eine Höllenblamage –, dass ich in der Pause klar Schiff machen wollte. Ich musste die Jungs dazu bewegen, ihren Eltern reinen Wein einzuschenken. Oder aber ich überredete sie, wieder heimlich Parkour zu betreiben. Hatten wir früher schließlich auch getan.
Doch sie schüttelten alle drei den Kopf, als ich sie darauf ansprach. Auch Seppo. Seppo hatte sich irgendwie verändert. Er trug neuerdings ein Piratentuch auf dem Kopf – fast als wolle er Leander nachmachen, aber den konnte er ja gar nicht sehen – und hatte sich über den Schläfen Muster in seine kurz geschorenen Haare rasiert. Ich wusste nicht, ob es mir gefiel oder nicht. Es sollte cool sein, aber irgendwie war es nicht cool. Oder war ich nur immer noch sauer auf ihn?
»Habt ihr wieder Angst, oder was?«, fragte ich angriffslustig.
»Quatsch«, sagte Seppo ruhig. »Das hat doch mit Angst nix zu tun. Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Aber warum denn nicht?« Ich stampfte wütend mit dem Fuß auf.
»Na, jetzt, vor der Klassenfahrt?«, fragte er.
»Was interessiert dich denn unsere Klassenfahrt?« Seppo ging in die Zehnte. Zwei Klassen über uns. Ihm konnte unser Landschulheimaufenthalt egal sein.
»Ich komme als Betreuer mit. Spart mir zwei langweilige Schultage. Und ich hab keinen Bock, dass die Fahrt abgesagt wird, weil wir vorher Ärger kriegen. Weißt doch, der Rübsam hat dich auf dem Kieker.«
Auf dem Kieker war noch untertrieben. Selbst jetzt, in der Pause, verzichtete er auf seine Zigarette und schlich mit einer Tasse Tee in den Händen um uns herum. Als würde er ahnen, dass die Jungs mit drinhingen. Und dass Seppo persönlich mir
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