Verzwickt chaotisch
mir auch wünschte, allein auf Klassenfahrt zu gehen, ohne Leander am Rockzipfel: Dass sie wieder Versuche mit ihm machten oder ihm einen neuen Klienten zuwiesen, ihn vielleicht sogar bestraften, wollte ich auch nicht provozieren. Ich setzte mich im Schneidersitz auf die andere Seite der Gasse und lehnte mich gegen die Wand. Leander hatte seine Lider gesenkt und spielte mit den zerschlissenen Schnürsenkeln seiner Boots herum.
»Ich hab mir das immer gewünscht, Luzie. Auf Klassenfahrt gehen. Das ist für uns Wächter in der Ausbildung das Größte, glaub mir.«
»Warum denn das?«, erwiderte ich perplex.
»Na, weil wir dann zusammen nachts Freiflüge machen können. Ist für uns quasi auch eine Art Klassenfahrt. Sonst düsen wir immer allein durch die Gegend und müssen während der Flüge Menschen beobachten und wichtige Dinge lernen. Aber bei einer Klassenfahrt ist alles ein bisschen anders … lockerer …«
Ich schwieg eine Weile. Hatte ich das richtig verstanden – Klassenfahrten waren für die jungen Wächter eine Art riesiger Spaß? Konnten sie überhaupt Spaß haben?
»Außerdem …«, fuhr Leander leise fort. »Außerdem hat man als Wächter auf einer Klassenfahrt die Gelegenheit, viele junge Menschen dabei zu begutachten, wie sie miteinander umgehen und dumme Sachen anstellen und ein bisschen erwachsen werden. Das ist hochinteressant für uns. Und ganz nebenbei …« Er murmelte etwas in sich hinein, was ich nicht genau verstand. Ich hörte nur die Worte »Affe« und »ausliefern«. Vermutlich ging es um Seppo. Aber ich wollte jetzt nicht an Seppo denken.
»Du bist doch gar kein Wächter mehr, Leander«, sagte ich stattdessen und bemühte mich, vernünftig zu klingen. Überzeugend. Erwachsen. Es gelang mir ganz ordentlich. »Du musst nix mehr lernen.«
Leander sah auf. Sein grünes Auge hatte sich verdunkelt. Nur das blaue schillerte hell wie eh und je. Doch er sah traurig aus. Ob er sich auch traurig fühlte?
»Was bin ich denn dann? Was bin ich eigentlich, Luzie?«
Ich fand keine Antwort. Er war weder mein Schutzengel noch der von jemand anderem. Er war arbeitslos auf Ewigkeit. Denn zurück wollte er nicht mehr. So viel stand fest. Aber ein Mensch würde er auch niemals werden, und wenn ihm noch so viele Haare sprossen und Bauchmuskeln wuchsen. Niemand konnte ihn sehen und hören. Ratlos hob ich die Schultern und wich Leanders fragendem Blick aus.
»Dann gibt es nur eine Möglichkeit«, beschloss ich nach einigen stillen Sekunden bitter. »Ich bleibe zu Hause und tu so, als wäre ich krank. Ich fahre nicht mit.« Und lasse Kelly auf Seppo los. Klasse. Ich spürte Leanders Augen auf mir ruhen. Konnte er nicht endlich mal wegsehen? Mein Gesicht wurde ganz heiß davon.
»Hey, chérie. Sei kein Frosch. Wir fahren zusammen. Nicht krank spielen. Ich geb mir Mühe, okay? Ich will nur dabei sein. Ganz unauffällig. Das wird schon klappen. Tagsüber kann ich ja abhauen. Und deine Klasse hat wirklich nicht mehr viele Wächter. Es haben heute welche gefehlt. Wieder einmal.«
Normalerweise hätte mich diese Information brennend interessiert. Doch mein Kopf war bereits damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie wir das anstellen sollten. Leander und ich auf Klassenfahrt. Es würde eine einzige Stresspartie werden. Leander stand auf, schlurfte zu mir herüber und hielt mir seine Hand hin.
»Ist kalt da unten auf dem dreckigen Boden, Luzie.« Ich nahm die Hand nicht, sondern sprang alleine auf meine Füße. Noch immer vermied ich es, ihn anzusehen.
»Dann probieren wir es eben«, willigte ich widerstrebend ein. »Du darfst mit.« Lieber Leander an der Backe als der Gedanke, dass ich nichts dagegen tun kann, wenn Kelly sich an Seppo heranmachte. Leander fasste mich vor Freude um die Hüfte und warf mich in die Luft, um mich gleich darauf sicher wieder aufzufangen. Es fühlte sich an wie Fliegen. Trotzdem machte ich mich sofort von ihm los.
»Wir gehen auf Klassenfahrt, auf Klassenfahrt, auf Klassenfahrt!«, jubelte Leander und lief beschwingt voraus. »Ob ihr abends singen werdet? Was meinst du, Luzie, werden wir singen?«
»Ich fürchte, ja.« Wenn Herr Rübsam schon am Wandertag und bei der Zeugnisausgabe und vor Weihnachten seine alte, abgenutzte Gitarre auspackte, dann würde sie bei der Klassenfahrt wohl kaum fehlen. Herr Rübsam sang mindestens so gerne wie Leander. Und sie teilten eine Begeisterung für Songs, die kein Mensch kannte. Allerdings hörte ich Leander lieber beim Singen zu als Herrn
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