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Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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vorgekommen, überhaupt etwas zu fühlen, ohne daß ein Publikum vorhanden war, das daran teilhaben konnte. Aber dennoch befiel mich keine tödliche Apathie. Schließlich gab es hier eine ganze Menge zu tun. Neben den tagtäglichen Arbeiten beschäftigte mich einiges: der Wind, die Sonne und das nasse grüne Efeu, das meinen Kopf umkränzte und mich in meinen Träumen verfolgte …
    Ich hätte die Auswirkungen der hormonellen Veränderungen in mir nicht vor Anna verbergen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Überall wuchsen mir Haare, und ich kam mir schon vor wie ein pelziges Tier, das ich einmal verspeist hatte, glaubte, es sei in mir zum Leben erwacht und bewege sich mit einer unwiderstehlichen, gemächlichen Kraft. Viel gravierender aber war das Andere. Das Andere, von dem Armitrage gesprochen hatte. Ich war ihm hilflos ausgeliefert, und es wuchs in mir: naß, grün und stark wie der Efeu. Ich träumte davon zu fliegen; ich träumte davon zu verbrennen; ich träumte sogar von Tanglins Fleisch und geisterhaften Frauenfingern, die es irgendwann einmal berührt hatten. Anna war auch darunter.
    Anna war die einzige Frau. Ich sah sie mit neuen Augen, nicht mehr mit den ruhigen, schwarz geschminkten Augen des Video-Kid, sondern mit älteren, heißeren, die mir zeigten, wie es unter der Oberfläche von Annas Haut brannte. Mir war bisher nie aufgefallen, daß die Linien einer Frau Kurven waren; daß sie nicht statisch waren, nicht nur die äußere Form der Haut über Muskeln und Sehnen. Jetzt sah ich, daß alles an ihr erblüht war und lebte. Vorher hatte ich nur die Proportionen bemerkt, jetzt sah ich die Anmut darin. Wenn ich Anna vorher ins Gesicht geblickt hatte, hatte ich nur Züge gesehen; jetzt sah ich darin die Frau.
    »Ich habe es allein getan«, sagte Anna. »Keine Kirche konnte mir dabei helfen, und ich brauchte dazu auch keine Kirche. Ich brauchte nicht einmal Tanglin dazu. Tanglin hat mir das Symbol angesteckt. Es waren nur Federn, Kid, aber sie wogen so entsetzlich schwer. Ich habe so lange darum gekämpft, dieses Gewicht zu ertragen, auch wenn es mich zu erdrücken drohte. Als mein Stamm noch lebte, durfte ich sie nicht im Stich lassen. Als ich scheiterte, gab es für mich nichts anderes mehr als Scham.
    Aber wie könnte ich noch Scham empfinden, wenn nur noch wir beide übrig sind? Wir sind hier gestrandet. Träumerei ist eine riesige Welt, und wir benötigen doch nur ein ganz kleines Stück davon. Dieser Strand ist unsere Welt, und wir sind ihre einzigen Bewohner. Dir ist es gleich, was ich in der Vergangenheit getan habe. Dich kümmert es nicht, was zwischen mir und der Kirche war oder zwischen mir und Tanglin. Und das ist es, was ich von dir gelernt habe, Kid: mich nicht darum zu kümmern. Nichts macht mir mehr etwas aus.«
    »Mir macht es schon etwas aus, Anna. Ohne dich wäre ich hier verreckt. Du bist der einzige Mensch, den ich wirklich kennengelernt habe ... Du bist mein Publikum, Anna, und doch bist du mehr ... Ein anderer Mensch kann eine ganze Welt sein, nicht wahr? Und wir beide sind die Welt, sind hier die Welt.«
    »Ja, ganz genau so!« lachte Anna. Es war ein zerbrechliches, sehr hohes Lachen, in dem unterschwellig Hysterie mitschwang. Sie hörte sich so an, als würden in ihr Ketten bersten. Sie rappelte sich auf und rannte über den Strand. »Niemand kann uns sehen!« rief sie. »Niemand ist mehr da, dem es etwas ausmachen könnte! Für die alte Welt bin ich tot, für all die alten Dinge und Werte bin ich tot!« Sie drehte sich im Sprung um, sah in den Himmel und zeigte anklagend mit dem Zeigefinger auf einen Stern. »Für dich gibt's mich nicht mehr, hörst du mich? Ich habe alles getan, was du wolltest, und jetzt habe ich mich deiner entledigt! Ich bin jetzt in meiner eigenen Welt! Ich bin jetzt mein eigenes Volk! Ich bin wiedergeboren! Ich erkläre mich hiermit für wiedergeboren! Niemand hätte das für mich tun können, und niemand kann mehr etwas für mich tun, es sei denn ich selbst!« Plötzlich rannte sie auf die Wellen zu und warf sich ins Wasser. Sie goß sich salziges Meerwasser über das zerzauste Haar und wiederholte die Prozedur noch zweimal.
    Das kalte Wasser schien sie zu beruhigen. Tropfnaß kam sie wieder an Land, warf ihre aufgeweichte Kleidung beiseite und stand nackt da, während die sanften Wellen über ihre Füße wogten.
    »Ich bin neugeboren«, sagte sie leise. »Hast du das Ritual verstanden?«
    »So etwas ist mir auch schon widerfahren«, sagte ich.

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