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Video-Kid

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Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Kopfhaut mit der Masseflüssigkeit in Berührung gekommen war. Es schmerzte in keiner Weise, aber eine rote Flüssigkeit sonderte sich ab, wenn Anna die Blätter und Stengel zu dicht an der Kopfhaut abschnitt.
    Ich selbst wuchs auch. In drei Monaten wurde ich siebeneinhalb Zentimeter größer, und damit waren dreihundert Jahre eintrainierter Reflexe dahin. Ich verlor meine geschmeidige, fließende und selbstbewußte Haltung und mußte mich dafür mit der Tolpatschigkeit eines Pubertierenden ab finden. Zum erstenmal in meinem Leben widerfuhr es mir, daß ich stolperte, meine Zehen anstieß und Gegenstände fallen ließ. Ich schnitt mich sogar, als ich versuchte, mich mit Armbrusters kleinem Skalpell zu rasieren. Meine Karriere war endgültig ruiniert. Es war sinnlos, überhaupt einen Gedanken an ihren eventuellen Wiederaufbau zu verschwenden.
    Für uns bestand kein Grund mehr, nach Telset zurückzukehren. Da meine Kameras fort waren, hatten wir keine Möglichkeit, unseren Aussagen das nötige Gewicht zu verleihen. Kein Mäzen stand uns zur Verfügung, kein Politiker war auf unserer Seite, und niemand unter meinen Freunden hatte genügend Einfluß, um den Widerstand gegen die Kabale zu organisieren. Wir hatten also keinen vernünftigen Grund, unser Leben aufs Spiel zu setzen, indem wir mit einem selbstgemachten Floß nach Telset segelten. Und selbst, wenn wir Telset erreichen sollten, war die Wahrscheinlichkeit groß, daß man uns dort schon am Ufer niederschießen würde.
    Unsere ganze Energie wurde ohnehin davon in Anspruch genommen, am Strand unser Dasein zu fristen. Als unser Zelt zerfiel, bauten wir eine hübsche, kleine Hütte aus Mangrovenholz. Das Dach machten wir aus Blättern, und meine Kampfjacke diente als Tür. Wir webten Netze aus Ranken und Rindenfasern und bauten Fischfallen aus Steinen und Treibholz. Und wir sorgten dafür, daß unser Feuer nicht ausging. Wir wurden braun, schlank und zäh.
    Ich hatte erwartet, Anna würde sich mit mir wegen unserer moralischen Verpflichtung zur Rückkehr nach Telset streiten. Aber Anna hatte sich ebenso wie ich verändert. Eines Nachts, als wir an unserem Feuer saßen, sah ich sie eigentümlich an. Sie war wirklich eine andere geworden. Das lag nicht nur an ihrem langen und lockigen Haar, das ihr über die Ohren ging und bis an die Schultern reichte; auch nicht nur an der explosionsartigen Ausbreitung von Sommersprossen auf ihrem Gesicht; oder an ihrem zerrissenen und verdreckten Einteiler. Nein, irgend etwas fehlte. Das Element der Spannung in ihrem Gesicht, die typische Grimmigkeit um ihre Mundwinkel - sie waren nicht mehr da. Anna wirkte jetzt nicht mehr entschlossen oder berufen, sondern vielmehr gelöst.
    »Du wirkst ganz anders, seit du deinen Federbusch verloren hast«, sagte ich. »Du hast mir nie gesagt, was aus diesem hübschen Kopfschmuck geworden ist.«
    »Es war kein Kopfschmuck«, sagte sie. »Es war ein Symbol. Ich trage nie Kopfschmuck.«
    »Hast du dein Symbol denn verloren?«
    »Nein, ich habe es hergegeben.« Sie zögerte einen langen Moment und sah hinauf in den Nachthimmel. Dann fand sie langsam ihre Sprache wieder. »Rominuald Tanglin hat mir den Federschmuck gegeben. Er bat mich, das Stück für ihn zu tragen, es immer zu tragen. Besonders, wenn ich vor einer Kamera stünde. Es sollte mich und meine Sache bekannt, zu einem festen Begriff machen. Das Stück war aus Moafedern gebunden, von den Lieblingstieren meines Stammes. Ich habe das Symbol dreißig Jahre lang getragen.« Sie sah mich eindringlich an. »Aber sein Alter spielt keine Rolle. Das Stück bestand immer noch aus Zellen, aus den Zeilen der Vögel. In den Zellen sind die Gene, und Gene sind das Herzstück des Lebens. Einige von den Zellen im Federbusch müssen noch lebensfähig gewesen sein. Also habe ich das Symbol fortgeworfen. Und zwar in den Tümpel, in den Armbruster gefallen ist. Die Flüssigkeit hat die Zellen der Federn aufgebrochen, und sie bleiben im Armbruster-Körper erhalten. Nun können meine Vögel nie mehr aussterben. Ganz gleich, was auch geschehen mag, ich habe die Moas gerettet. Ich habe das getan, und sonst niemand.«
    »Das war gut getan«, sagte ich und sah sie in ehrlicher Bewunderung an. Die Monate mit Anna am Strand hatten auf dramatische und bizarre Weise die Welt meiner Gefühle und Empfindungen verändert. Sie war das einzige Publikum, das mir noch blieb, und so war sie der Empfänger meiner Taten und Gesten. Zuerst war es mir albern und unsinnig

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