Viele Mütter heißen Anita
Turm die langen Fahnen mit der heiligen Maria und ziehen die Gläubigen in endlosem Zug zu der alten Kirche San Juan de los Reyes, vorbei an dem großen Inquisitionspalast, in dem zur Zeit des blutigen Königs Philipp II. die Schreie der Gefolterten über die Gassen gellten.
Sonntags geht man spazieren zu den beiden maurischen Toren, deren Filigransteinwerk ein Meisterstück der Bildhauerkunst ist, über die beiden hohen Brücken, die den Tajo in einem wundervollen Bogen überspannen. Einst gingen hier die königlichen Waffenschmiede in den langen seidenen Gewändern spazieren, die Schmiede, die den Namen der Toledoklinge in die Welt trugen – sie neckten die Mädchen aus den Marzipanfabriken und den Posamentenstickereien, die, in die Mantilla gehüllt, züchtig über die Straßen wandelten und ihr errötendes Lächeln hinter dem klappernden Fächer verbargen.
Es ist alter Boden, dieses schöne Toledo am Tajo. Hier gingen die Römer, hier saßen die wehrhaften Karpetaner, die Westgoten erkoren die Stadt am Granithang zu ihrer Königsresidenz, und auf dem Schlachtfeld vor den Toren eroberte es 1085 Alfons VI. von Kastilien und machte es zu Spaniens Königsstadt, zu dem Edelstein in der romanischen Krone.
Wenn die Sonne über Toledo scheint, leuchten die Mauern und Kirchen und Paläste, leuchtet selbst der Felsen aus Granit, der wie ein Schild den Rücken dieser Stadt deckt. Und man kann oben auf der Höhe sitzen und hinabblicken auf das blitzende Band des Tajo und das Gewühl der Menschen auf den Straßen, und man vergißt die Zeit und wird eins mit dem uralten Boden, mit der Kultur der Völker, die in Toledo lebten und in Toledo starben.
Über dem Tajo, in der Nähe der südlichen Brücke, liegt die Kunstakademie Spaniens – ein langgestreckter, moderner, nüchterner Zweckbau mit einem zur Hälfte gläsernen Dach, unter dem sich die Atelierräume der Bildhauer und Malklassen befinden. Große Vorhänge können vor die Fenster gezogen werden, wenn die Sonne zu heiß in die Räume brennt. Die drei Stockwerke darunter sind die Unterrichtsklassen, die Anatomie, die Verwaltungszimmer, die Bibliothek mit über 10.000 Bänden internationaler Kunstgeschichte, die Studierstuben, Baderäume, ein Schwimmbad und eine Turnhalle zu ebener Erde. Nach den neuesten Forschungen wurde dieses Haus der Kunst gebaut, nach den Plänen eines deutschen Architekten, der den Grundsatz, daß in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt, in Stein und Glas demonstriert.
Direktor Ramirez Tortosa war stolz auf seine Akademie. Seit er die Leitung dieser größten und berühmtesten Kunstschule Spaniens hatte, gingen aus diesen großen Räumen gute und beste Könner hervor, die Staatspreise und Aufträge aus dem gesamten Ausland erhielten. In seinen Händen lag die Zentrale dieses Gebäudes – er war der Knotenpunkt eines feinverästelten Nervensystems, das dieses Haus der Kunst durchzog. Sein Wille und sein Können bestimmten die Linie des Unterrichts und die Beurteilung der Schüler. Es waren dreihundert junge Mädchen und junge Männer aus allen Teilen Spaniens, sogar aus Portugal und von den Kanarischen Inseln, aus allen Schichten des Volkes, und sie bildeten eine feste Gemeinschaft, eine große Familie, deren Oberhaupt Tortosa war. Ob es der Sohn eines Industriemagnaten war, die Tochter eines Generals oder der kleine, arme, schüchterne und in sich zusammenkriechende Bauer Juan Torrico … sie waren dem Willen Tortosas Untertan und lebten doch ein sorgloses, lustiges und freies Leben.
Auch Juan Torrico?
Auch er …
Aber sein Leben war doch im Grunde anders als das seiner dreihundert Kameraden von Toledo.
Als er an jenem Septembernachmittag mit Dr. Osura die Stadt erreichte und mit wunderoffenen Augen die herrlichen Bauten, den Dom mit dem riesigen, mächtigen Turm, die Brücken und den Tajo und das Glasgebäude der Kunstakademie bestaunte, hielten sie sich nicht lange mit dem Anblick auf, sondern fuhren zunächst in das Privatquartier Juans, das man von Madrid aus für ihn besorgt hatte.
Die Rua de los Lezuza liegt außerhalb der Stadtmauer direkt am Tajo. Sie ist eine der typischen spanischen Flußstraßen mit hochgeschossenen, schmalen Häusern, deren Balkone mit den schönen geschmiedeten Eisengittern zum Fluß hinausragen und gegen die Stürme des Winters durch große hölzerne Schlagläden geschützt sind. Die Anstrichfarbe, meistens ein Schmutziggelb, ist verblichen und abgeblättert – die nackten Steine schauen unter
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