Vielleicht Esther
1989, und das Land zitterte unter der Schocktherapie, wie das wirtschaftliche Experiment hieß, als die Preise freigegeben wurden. Wir hatten nur sechs Tage, einen davon für Oświęcim. Ich erinnere mich an den Blick aus dem Fenster auf die flache Landschaft, die mir vertraut schien, als wäre ich gar nicht verreist, mit den kleinen Hügeln und der langgezogenen Ebene, der bescheidenen Pflanzenwelt und den leicht verblichenen Farben, ich erinnere mich an meine Nachbarn im Bus, an Gespräche über ein Musikfestival in Kraków und an ein kleines Geschäft am Eingang von Oświęcim, voll mit Gegenständen, die nichts mit der Gedenkstätte zu tun hatten, man konnte in dem Geschäft ganz billig Silber kaufen, Ketten, Ringe, Kreuze, vielleicht gab es auch andere Dinge, die ich jetzt nicht mehr deutlich sehe. Alle, die schon einmal in Polen gewesen waren, hatten Silber mitgebracht. Kauft Silber!, war die Devise. Rasch entwickelte man Geschmack an diesen Geschäften, und einige Damen im Bus hatten Bügeleisen und Lockenwickler dabei, um sie hier in Polen gewinnbringend zu verkaufen. Ich erinnere mich, wie in mir die Begierde, unbedingt etwas kaufen zu müssen, eine Kette zum Beispiel, obwohl ich sie nicht wirklich brauchte, mit der Scham kämpfte, gerade hier, vor diesem Tor, über Geld und Profit nachzudenken, schließlich kam ich aus guter Familie, was bei uns hieß, dass man sein Profitstreben zügelte, bei unserem Geldmangel nicht schwer, und das verlieh Würde und bestätigte die eigene Wohlanstän
digkeit. Es waren aber neue Zeiten angebrochen, und mit unseren für die Ewigkeit gültigen moralischen Normen stimmte etwas nicht mehr. Wenn ich die Kette nicht kaufte, dachte ich, würde ich später bestimmt bereuen, dass ich die Gelegenheit verpasst hatte, dabei zu sein, endlich dazuzugehören, zu allen zu gehören, die kaufen konnten, weil es endlich etwas zu kaufen gab, und wenn das alle taten, war es bestimmt eine gute Investition. Investition war eins dieser nagelneuen Wörter, es kann also nicht so schlimm sein, hier eine echte Silberkette zu kaufen, beim Eingang von Oświęcim. Das war keine unmoralische Tat, sondern es war zeitgemäß, sich hier etwas Irdisches zu leisten, als Zeichen des Sieges über den Faschismus zum Beispiel. Doch je mehr ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, desto schneller wuchs die Zerrissenheit und das Gefühl, dass Pragmatismus hier fehl am Platz sei. Mit gepresstem Atem, so meine ich mich zu erinnern, entschied ich mich für einen Kompromiss und kaufte drei Ketten, als Geschenk, als ob der Akt des Schenkens die Frage nach Gut und Böse eliminierte. Eine für Mama, eine für die beste Freundin, eine für alle Fälle. Später habe ich die dritte Kette doch an mich genommen, bis eine Art Unbehagen mich dahin brachte, sie halb unbewusst, dennoch mit leichtem Bedauern verlorengehen zu lassen. Auch Karl Marx hatte etwas über Ketten geschrieben, die man auf dem Weg in die Freiheit verliert.
Als ich die drei Ketten gekauft hatte und vor dem Tor von Oświęcim stand, machte mein Gedächtnis halt. Von diesem Augenblick an erinnere ich mich an nichts. Ich habe mehrmals versucht, mein Gedächtnis durch das Tor schlei
chen zu lassen, nur zur Besichtigung – vergeblich. Keine Spur. Ich war dort, empfinde aber nichts davon und tauche erst am nächsten Tag wieder auf, als wir in ein kleines hübsches Städtchen im Süden Polens einzogen, mit pittoreskem Marktplatz und kościół , einer neugebauten, kahl-modernen Kirche. Ich kam erst wieder zu mir angesichts des jungen Priesters, den ich wie eine mir und der gesamten Wissenschaft unbekannte Kreatur betrachtete, als wäre er der erste Mensch, den ich sah, als wäre ich gerade aus seiner Rippe herausgekommen, und als könnte er nicht wissen, dass ich von ähnlicher Art sei, nach der Sintflut. Ich betrachtete seine scharf geschnittenen Nasenlöcher, seine zur Muttergottes gerichteten Augen mit fächerartigen Wimpern, seine Hände mit den langen, viel zu braven Fingern, als ob alles Menschliche mir neu vorkäme, die ganze Anatomie, die nun, Gott weiß warum, vom Priesterrock verdeckt war, und als er uns begeistert und leise von seiner neuen Gemeinde erzählte, konnte ich mich nicht auf seine Sorgen konzentrieren, so über alle Maßen schön war er. Hätte ich mich konzentrieren können, hätte ich meine Erinnerung an gestern zulassen müssen, das Wort und das Geschehen, wie man Menschen konzentriert und sich selbst, stattdessen fragte
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