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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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in der Sonne. Sie waren zum großen Teil demoliert, nur Buchrücken und Einband standen noch, der Inhalt war herausgerissen. Auf dem Vorsatz Spuren fremden Lebens, eine verkehrte Intimität, bunte kleine Quadrate aus Schlafzimmern, Wohnzimmern und Küchen, unterschiedliche Tapeten, durchweg mit irgendwelchen Schriften bemalt, die ich zu entziffern begann, je mehr ich verstand, desto langsamer, bis ich begriff, dass sie mit unzähligen Hetzparolen beschriftet waren gegen diejenigen, die es hier nicht mehr gab. Das hatte ich mir in dieser Stadt nicht vorstellen können, in der Hauptstadt meines ersten Auslandes, Heimatstadt meiner Großmutter, auf den verwundeten, wehrlosen Häusern. Mein Blick tastete sich weiter durch die Fluchten der nichtexistierenden Zimmer, ohne dass ich verstand, warum ich die Schändungen so lan
ge betrachtete, warum ich diese klaffende Nacktheit anstarrte, als schlüge in einem sonnigen Park plötzlich ein Exhibitionist seinen Mantel auf, und nirgendwo gäbe es Zuflucht vor dieser ungewollten Begegnung. Und wie hätte ich die Augen abwenden können und wohin, in dieser einst jüdischsten Stadt Europas?
    So schweifte ich in der Stadt mit ihrer neu aufgebauten Geschichte umher und kaufte mir nicht weit vom Chopin-Denkmal eine Schallplatte, aus purer Überraschung. Auf dem Umschlag prangte ein Mogendovid, ein Davidstern. Das Wort Mogendovid für den sechszackigen Stern hatte ich vor kurzem zum ersten Mal gehört. Auf der Plattenhülle stand so etwas wie Zydowskie piosenki wschodniej Europy . Die polnischen Wörter transkribierte ich mir damals ins Russische, und nun übersetze ich sie ins Deutsche, Jüdische Lieder aus Osteuropa . Der Mogendovid räkelte und streckte sich auf dem Umschlag, so selbstverständlich, wie sich unser Land von Europa bis zum Stillen Ozean erstreckte. Ich beobachtete ihn, als wäre er ein unbekanntes Tier, das sich im nächsten Moment bewegen könnte, ich tastete jede der sechs Spitzen ab, jede Drehung, jeden Winkel. Unser ganzes Leben lang hatten wir fünfzackige Sterne gemalt, die auf der Erde und die, die am Himmel prangten, die Sterne unseres Kremls, wie wir sie in einem Lied besangen, wir kannten auch ein anderes Lied, in dem ein Stern mit dem anderen spricht, man sang es, wenn man sich allein auf einen Weg begab, aber keiner dieser Sterne hatte sechs Zacken. Nie zuvor war ich in meinem unendlich langgestreckten Vaterland einem Mogendovid begegnet, weder als Zeichen noch als Gegenstand.
    Der sechszackige Stern hatte mich nicht deswegen über
rascht, weil ich immer einen Mogendovid hätte sehen wollen, ich wusste nicht einmal, dass man sich das wünschen konnte, der Wunsch war seines Inhalts beraubt, mit den Wurzeln herausgerissen, wie der Inhalt der Zimmer jener verlassenen Häuser. Ich war vor Überraschung verlegen beim Anblick dieses Mogendovids, der sorgfältig in Dunkelblau auf weißem Grund gemalt war, mit einer bunten Taube in der Mitte.
    Zurück in Kiew, legte ich die Schallplatte auf, und meine Großmutter, die ihr ganzes Leben lang mit leichtem polnischem Akzent sprach – ich erinnere mich an das Wörtchen cacki , ein polnisches Wort für Kleinod, das Rosa für meinen Kram, die unnützlichen Dinge benutzte, cacki , wie ein Lutschbonbon, ein ledenets , mit einem schnalzenden ts  –, meine Großmutter, die, solange ich mich erinnern konnte und auch so lange, wie meine Mutter sich erinnern konnte, niemals ein Wort auf Jiddisch gesagt hatte, begann auf einmal, übermütige Lieder in einem obdachlosen Moll zu singen, erst den Worten folgend, ihnen nachgehend, dann sicher im gleichen Schritt und plötzlich den Worten voraus, fröhlich und vorschnell, und ich hörte ihr mit der gleichen Ungläubigkeit zu, wie ich den Mogendovid auf der Schallplatte ertastet hatte. Wäre die Perestrojka, wäre meine Polenreise, wäre diese Schallplatte nicht gewesen, so hätte sich das versiegelte Fenster ihrer frühen Kindheit nie mehr für uns geöffnet, und ich hätte niemals verstehen können, dass meine Babuschka aus einem Warschau kommt, das es nicht mehr gibt, dass wir von dort sind, ob ich will oder nicht, aus dieser verlorenen Welt, an die sich meine Großmutter, schon von uns gehend, abtretend, auf einer letzten Grenze, am Rande, erinnerte.
Als wäre sie beim Erinnern ertappt worden, streckte sich die Zeit aus und griff nach Rosa, durch die Schallplatte erreichte sie mich und erweckte Rosas Erinnerungen, die, so schien es, völlig verstummt und verschüttet waren

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