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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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in Bewegung, und ich sehe die aufgerissenen Münder, die lautlosen Schreie, wie im Stummfilm, als hätten sich alle Sinne in Bewegung verwandelt, als gäbe es nur noch etwas zu sehen und nichts mehr zu hören. Und wieder läuft die junge Frau im hellen Kleid mit der Kanne Stafette, um sie weiterzureichen, denn ohne Wasser gibt es kein Überleben, ihre Beine schimmern wie in einem Trickfilm, die Frau ist jünger als ich heute. Ich kann besser rennen, Babuschka!, und obwohl ich es nicht möchte, renne ich, ich renne für sie, jedesmal wenn ich mich an diese Szene erinnere, ich renne für sie, es ist keine Erinnerung, ich renne um ihr Leben. Mitten im Rennen wache ich auf, ich renne, und der Zug nimmt Fahrt auf. Von oben sehe ich die ausgestreckten Hände, ich bin oben, oder nein, oben ist meine Rosa, ich stehe unten, der Zug saust vorüber und wird von der grauen Landschaft verschluckt.
    Facebook 1940
    Manchmal hatte ich das Gefühl, ich bewege mich durch den Baumüll der Geschichte. Nicht nur meine Suche, sondern auch mein Leben wurde allmählich sinnlos. Ich wollte viel zu viele Tote ins Leben zurückrufen und hatte dafür keine durchdachte Strategie. Ich las zufällige Bücher, ich reiste durch zufällige Städte und machte dabei unnötige, sogar falsche Bewegungen. Aber, vielleicht – das ist nur eine kühne Vermutung – habe ich mit all den Bewegungen die Geister der Vergangenheit aufgestört, irgendwo eine zarte Membran berührt, dort, in der untersten Himmelsschicht, an die ein Mensch noch gerade heranreichen kann. Und ich dachte, dass meine Mutter, eine eigenwillige Lehrerin, sich schon immer in dieser Umgebung aufgehalten hat.
    Diesmal klingelte das Telefon. Silvester 2011 in Kiew. Meine Mutter geht an den Apparat.
     
    Ich heiße Dina, sagt eine alte Dame, ich habe gehört, dass Sie alles über die Schule Nummer 77 in Kiew sammeln, ich habe diese Schule im Jahr 1940 absolviert. Ich rufe aus Jerusalem an.
     
    Aus dem Jahr 1940 hatten wir schon lange keinen Anruf mehr erhalten, von dorther wehte es mit einer Kälte, als käme der Anruf direkt aus dem Jenseits, Jerusalem war der Beweis dafür, eine Zwischenstation. Meine Mutter stand wie versteinert mit dem Hörer in der Hand und konnte nur mit heiserer, aber fester Stimme sagen, Ja, ich höre zu.
    Das Telefon wurde auf laut gestellt.
    Die Silvestergäste verstummten.
     
    Kiew haben wir zu Kriegsbeginn sofort verlassen, sagte Dina resolut. Wir wurden nach Dagestan evakuiert. In den siebziger Jahren sind wir von dort nach Israel emigriert, nach Kiew bin ich nie zurückgekehrt. Gerade habe ich eine meiner Freundinnen aus meiner Abschlussklasse von 1940 gefunden, auf Facebook. Sie sagte mir, dass Sie uns suchen. Ja, ich bin 88 Jahre alt, mit dem Computer komme ich zurecht, meine Tochter hilft. Sind Sie Archivarin?
    Nein, ich bin Geschichtslehrerin, sagte meine Mutter und erzählte, dass sie seit vierzig Jahren in dieser Schule arbeitet und sich bemüht, die Geschichte der Schule zusammenzustellen, obwohl, ich würde eher sagen, dass meine Mutter die Geschichte der Schule neu erdichtet. Vor langer Zeit habe ich mit Schülern ein Theaterstück inszeniert, sagte sie, über die Abiturienten, die direkt am Tag nach ihrem Abschlussball, dem ersten Tag des Krieges, an die Front zogen, wir hatten einige von ihnen gefunden und auf die Bühne geholt.
    Statt zu antworten, zählte Dina die Namen ihrer Klassenkameraden auf, dann die aller Lehrer und einiger Eltern.
    Sie erinnerte sich an alle, siebzig Jahre nach ihrem Schulabschluss.
     
    Nach dem Krieg, als die Überlebenden langsam nach Kiew zurückkehrten, von der Front oder aus der Evakuierung, wusste niemand etwas über Dina. Ein Viertel der Klasse war im Krieg gefallen, und irgendwann hörte man auf, einander zu suchen. Dina war Jüdin und hätte von der
Schlucht Babij Jar oder sonst wo verschlungen worden sein können. Manchmal suchte man nicht, weil man sicher war. Aber Dina lebte.
     
    Wo haben Sie in Kiew gewohnt, fragte meine Mutter.
    Nicht weit von der Schule, auf der Institutskaja.
    Als meine Mutter diesen Straßennamen hörte, wurde sie hektisch.
    Wo genau?
    An der Ecke Karl Liebknecht.
    In dem grauen Haus an der Ecke? Gegenüber der Apotheke?
    Ja!, sagte Dina, der erste Eingang links.
    Aber wir wohnten auch da!, schrie meine Mutter.
    Es gab aber keine Petrowskijs in unserem Haus, erwiderte Dina.
    Ich bin doch Owdijenko!
    Swetotschka!, nun schrie Dina.
     
    Alle Anwesenden schwiegen, als wüssten sie

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