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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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wie auch das, was einmal ihre Muttersprache gewesen sein mochte, die wir und sogar sie selbst vergessen hatte. Seit diesen Liedern, die meine Babuschka mitsang, dazu komisch und ungeschickt im Sitzen hüpfend – eine Bewegung, die ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte –, denke ich über die unendlichen Varianten unseres Schicksals nach, pausenlos, die in ganz anderen Liedern hätten erklingen können. Was wäre wenn, was wäre falls, was, wenn es nicht geschehen wäre, oder was wäre gewesen, wenn sie in Warschau geblieben wären 1915 oder nach Amerika ausgewandert, alle zusammen.
    Dann hüpfte auch ich komisch und ungeschickt, wie eine Nadel auf einer abgespielten Platte, übersprang den ganzen Krieg wie ein Gebiet, das meinen rettenden Phantasien nicht unterstellt war, und landete in den siebziger Jahren meiner Kindheit, aus denen meine Eltern schon hätten wegfahren können. Aber sie blieben, um Bewegungen und Gegenstände aufzubewahren, die längst außer Gebrauch sind und nicht mehr im Handel.
    Wünschelrute
    Meine Großmutter Rosa hätte uns beide nicht verstanden, meinen Bruder und mich. Mit Ende zwanzig lernte er Hebräisch, ich Deutsch. Er wandte sich dem orthodoxen Judentum zu, aus blauem Himmel, wie wir alle dachten, ich verliebte mich in einen Deutschen, beides war von Rosas Lebensvorstellungen gleich weit entfernt. Sein Hebräisch und mein Deutsch – diese Sprachen veränderten unsere Lebenswege, Betreten auf eigene Gefahr . Wir waren eine sowjetische Familie, russisch und nicht religiös, das Russische war das stolze Erbe aller, die wussten, was Verzweiflung ist, angesichts des Schicksals der eigenen Heimat, wie der Dichter sagt, Nur du gibst mir Stütze und Halt, o du große, mächtige, wahrheitsgetreue und freie russische Sprache, und heute höre ich in diesen Worten o du fröhliche, o du selige, wir bestimmten uns nicht mehr durch die lebenden und die toten Verwandten und ihre Orte, sondern durch unsere Sprachen. Als mein Bruder mit Hebräisch anfing, um sein Leben dem Judentum zu widmen, stürzte er sich in diese Sprache, ohne die Furcht des Spätanfängers, mit der Begierde eines Neophyten, ohne zu wissen, was er tat, und eroberte die ganze Tradition zurück, mitsamt dem verschollenen Wissen vergangener Epochen. Meine Wahl war unbedacht, aber logisch. Gemeinsam schufen wir, mein Bruder und ich, durch diese Sprachen ein Gleichgewicht gegenüber unserer Herkunft.
     
    Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine. Als wäre es die kleinste
Münze, zahlte ich in dieser spät erworbenen Sprache meine Vergangenheit zurück, mit der Leidenschaft eines jungen Liebhabers. Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte, getrieben von einer unerfüllbaren Sehnsucht, einer Liebe, die weder Gegenstand noch Geschlecht kannte, keinen Adressaten, denn dort waren nur Klänge, die man nicht einzufangen vermochte, wild waren sie und unerreichbar.
     
    Ich begab mich ins Deutsche, als würde der Kampf gegen die Stummheit weitergehen, denn Deutsch, nemeckij , ist im Russischen die Sprache der Stummen, die Deutschen sind für uns die Stummen, nemoj nemec , der Deutsche kann doch gar nicht sprechen. Dieses Deutsch war mir eine Wünschelrute auf der Suche nach den Meinigen, die jahrhundertelang taubstummen Kindern das Sprechen beigebracht hatten, als müsste ich das stumme Deutsch lernen, um sprechen zu können, und dieser Wunsch war mir unerklärlich.
     
    Ich wollte auf Deutsch schreiben, auf Teufel komm raus Deutsch, ich schrieb und versank unter dem Gewicht des aufquellenden Sprachfutters, als wäre ich Kuh und ungeborenes Kalb zugleich, brüllend und muhend, gebärend und geboren, all der Mühe wert, meine unübersetzbaren Leitsterne wiesen mir den Weg, ich schrieb und verirrte mich auf den geheimen Pfaden der Grammatik, man schreibt, wie man atmet, trist und Trost habe ich stets versöhnen wollen, als könnte mir diese Versöhnung einen Schluck Meeresbrise schenken.
     
    Oft verbiss ich mich in die Sprache, mit dem Recht der Besatzungsmacht, ich wollte diese Macht, als müsste ich die Festung stürmen, mich mit dem ganzen Körper in die Schießscharte werfen, à la guerre comme à la guerre, als wäre mein Deutsch die Voraussetzung für den Frieden, der Blutzoll war beträchtlich und die Verluste sinn- und gnadenlos, wie bei uns zulande üblich, aber wenn sogar ich auf Deutsch, dann ist wirklich nichts und niemand vergessen, und sogar Gedichte

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