Vielleicht Esther
mehr sang sie die Welt ihrer Jugend herbei.
Rosa wollte Opernsängerin werden oder zur Operette gehen, denn sie liebte das Tanzen, als junge Frau stahl sie sich häufig fort von zu Hause, diesem selbstlosen Taubstummenlehrer-Betrieb, um die Operette zu besuchen, ganz
für sich allein. Sie wurde Logopädin und Gehörlosenpädagogin, sie tanzte und sang für ihre Schüler, wann immer sie konnte. Noch mit fünfundsiebzig Jahren führte sie mir ihre Lieblingsstücke vor: Der Zigeunerbaron , Die Fledermaus , Die Bajadere und Verdi jederzeit.
»Warum bin ich schuldig, dass ich mich in Alfredo verliebt habe«, sang sie, wie die russische Übersetzung seltsamerweise lautet – »L'amore d'Alfredo perfino mi manca«. Jahre später fand ich heraus, dass es sich um die Arie der Violetta aus La Traviata handelte, ich erschrak jedesmal, so leidenschaftlich sang Rosa, so fremd erschien mir diese Leidenschaft meiner Babuschka, die seit vierzig Jahren ohne Mann lebte, und so gegenwärtig. Rosa kannte Dutzende italienische Arien auf Russisch, und sie begleitete sich dabei selbst, sie sang und spielte blind auf dem schwarzen Klavier, das in meinem Zimmer stand.
Sie und ihre ältere Tochter, Lida, hatten noch taubstumme Kinder unterrichtet, meine Mutter und ich taten es nicht mehr. Aber die Gestik, die Gebärden blieben uns. Sprechend arbeiteten wir mit den Händen, als ob unsere Rede ohne diese Begleitung nicht der Rede wert, nicht vollständig wäre. Die eine Hand aufhebend oder die andere, die Finger ineinanderfaltend, kleine Bewegungen ohne Sinn und Ziel, im Widerspruch zu sich selbst, spannen wir Ornamente in die Luft, wir, die Nachfolgerinnen, begleiteten uns gestisch, niemand verstand unsere Akkorde, nicht einmal wir selbst, wir spielten nicht mehr Klavier, langsam verlernten wir die Sprache der Hände und tasteten in die Leere.
Als Rosa alt war und nicht mehr unterrichtete – ich habe nie gesehen, wie sie sich in Gebärdensprache mit jemandem unterhielt –, machte sie bei Tisch in der Uliza Florenzii unnötige schöne Bewegungen, als wäre sie tatsächlich in Italien geboren, und sie hörte damit nicht auf, wenn sie mit Messer und Gabel hantierte, oft fiel das Besteck zu Boden, Messer flogen durch die Luft. Andere hatten Silberbesteck geerbt, wir die Ungeschicklichkeit im Umgang mit Besteck aus rostfreiem Stahl. Als Tante Lida, Rosas Tochter, mit ihrer Arbeit in der Taubstummenschule aufhörte, fing sie an zu rauchen, beim Sprechen zügelte sie ihre schnell auffliegenden Hände mit Zigarette und Streichholz. Ein. Aus. Ruhe! Lidas Tochter, Marina, strickte unaufhörlich, doch nicht in der Luft, wie die Gehörlosen und ihre Lehrer, sondern Pullover, Socken, Röcke, sie strickte alles, sogar Bikinis, nur ich blieb mit leeren Händen vor der Computertastatur.
Das Wichtigste waren aber ihre Beine, sagte meine Mutter, Rosa war stolz auf ihre Beine, und, unter uns, von allen Frauen in unserer Familie hatte Rosa die schönsten. Meine Babuschka hatte tatsächlich sehr schöne Beine, sie war leichtfüßig, noch im Krankenhaus, kurz vor ihrem Tod, zeigte sie den Krankenschwestern, wie man Charleston tanzt, das war, als die Krankenschwestern die Zimmer lüfteten und Rosa aufstehen musste, trotz ihrer Schmerzen, sie konnte nur noch liegen und tanzen. Meine Mutter war zu Besuch und sah zu, wie ihre Mutter tanzte, es war ihr nach dem Herzinfarkt streng verboten zu tanzen, und alle wussten das, und dann, so erzählt meine Mutter, hielt Rosa vor allen Kranken eine Rede, sie sprach über die zwanziger
Jahre in Moskau, wie sie Tanzen gelernt hatte, tanzend erzählte sie von der Neuen Ökonomischen Politik und wie sie die Rede von Trotzki im Molokokoopsojus, dem Milch-Coop-Verein, hatte miterleben dürfen und wie er eine Kuh auf die Bühne geführt hatte, na ja, vielleicht nicht er selbst, meinte meine Mutter, sondern jemand anderes, während Trotzki seine Rede hielt, und ich dachte, dass es der Charleston war, der meine Rosa an Trotzki und seine Kuh erinnerte, leichtfüßig tanzte sie mitten in die Weltgeschichte hinein.
Die Beine der Frauen unserer Familie wurden in jeder Generation schlechter, sie verkümmerten buchstäblich, sagte meine Mutter – und sie meinte es ernst, sonst scherzte sie gerne –, das lag daran, dass die Frauen unserer Familie jahrhundertelang an sechs Tagen der Woche vor ihren Schülern standen. Die Beine wurden immer krummer und die Füße flacher, so flach wie bei den Schwänen,
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