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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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sind erlaubt, und Friede auf Erden.
     
    Mein Deutsch, Wahrheit und Täuschung, die Sprache des Feindes, war ein Ausweg, ein zweites Leben, eine Liebe, die nicht vergeht, weil man sie nie erreicht, Gabe und Gift, als hätte ich ein Vöglein freigelassen.
    Der Zug
    Im Juli 1941, als meine Mutter ihre Heimatstadt Kiew verließ, war sie noch keine sechs Jahre alt. Alles, was sie mir über ihre Kindheit erzählte, drehte sich um den Krieg. Sie hatte Erinnerungen an das Davor, aber im Krieg hatte sie gefunden, was ihren Hunger nach großen Gefühlen, ihre natürliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit stillte. Am Krieg maß sie alles, was danach geschah.
    Der Krieg brachte die Trennung vom Vater, den Abschied von der Kindheit und die erste beschwerliche Reise durch das riesige Land. Als der Krieg zu Ende war, lebte ihr Großvater nicht mehr, ihre Großmutter Anna und ihre
Tante Ljolja waren getötet geworden, ihr Vater Wassilij war verschwunden. Mir schien, dass ihre Erinnerungen an das Davor – die Ausflüge mit dem Großvater ins Kino, das Ginsburg-Haus am Ende ihrer Straße, damals das höchste Haus der Stadt – nur für ein späteres Wiedersehen bestimmt waren, denn der Krieg leuchtete in beide Richtungen, das Davor gab es nicht mehr, und die Erinnerung wurde zum einzigen Beweis der Vergangenheit.
     
    Immer wieder erzählte sie mir vom Krieg, obwohl es kaum etwas zu erzählen gab, nur ein paar wenige Geschichten, aber aus diesen Primärfarben malte sie alle weiteren Geschichten ihres Lebens. Ihr Krieg wurde zu meinem, wie auch die Unterscheidung eines Davor und eines Danach zu meiner wurde, und irgendwann war es mir nicht mehr möglich, ihren Krieg von meinen Träumen zu unterscheiden und ihre Erinnerungen in den Regalen meines Gedächtnisses ruhen zu lassen.
    Immer wieder wachte ich in einem überfüllten Zug auf, die Menschen auf Säcken, meine sechsjährige Mutter, ihre Schwester Lida, meine Babuschka Rosa, sie alle kauerten in einer Ecke des Viehwaggons, die Reise dauerte schon Tage. Meine Mutter lag auf dem Boden des Waggons, der spärlich mit Stroh bedeckt war, sie hatte die Masern. Das Wort Viehwaggon beschäftigte mich nicht besonders, denn ich wusste, sie fuhren in die andere Richtung, nicht in die Richtung des Todes, sondern ins Ungewisse.
    Meine Mutter Rosa, so hat mir meine Mutter erzählt, holte bei jeder Gelegenheit Wasser, das war nur möglich, wenn der Zug in der Nähe eines Bahnhofs hielt und nicht mitten auf einem endlosen Feld. Die Züge hielten ohne Vorankün
digung, und ohne Vorankündigung setzten sie sich wieder in Bewegung, Hunderte von Müttern stiegen aus. Einmal geschah es, dass sich der Zug in Bewegung setzte, als Rosa mit ihrer Kanne noch am Brunnen stand.
    In diesem Moment sehe ich alle zugleich: meine Babuschka, meine Mutter als Kind, ihre Schwester, mich selbst. Wirf die Kanne weg! Renn! Aber Rosa ist mit dieser Kanne wie verwachsen, sie rennt, das Wasser ist längst verschüttet, für einen Moment ist es, als sei alles verloren und als könne sie den Zug niemals mehr einholen, doch als alles verloren scheint außer der Kanne in ihrer Hand, da hat sie den Zug auf einmal erreicht, wie nach einem Filmschnitt, als hätten wir kurz weggeschaut. Wie sonst kann man erklären, dass ein Mensch am Ende seiner Kräfte schneller ist als ein Zug, der Fahrt aufnimmt? Durch die offene Schiebetür des Waggons strecken ihr die anderen Frauen ihre Hände entgegen, sie schaffen es, die Mutter meiner Mutter hochzuziehen, meine Babuschka, die gerade fünfunddreißig Jahre alt ist. Ich sehe die Szene zuerst im Schnelldurchlauf, dann setzt eine Verlangsamung ein, als ließe sich etwas erklären, wenn man das Geschehen so verlangsamt, dass der Wendepunkt sichtbar wird.
     
    Meine Mutter war zeitlebens davon überzeugt, dass sie einander für immer verloren hätten, wenn Rosa den Zug nicht eingeholt hätte, und dass sie noch im Zug an den Masern gestorben wäre, trotz der Mühen ihrer Schwester.
     
    »Es ist der gleiche Traum, der sich immer wiederholt«, heißt es in dem Lied, das mein Bruder zu singen pflegte, in einem schnellen, jagenden Rhythmus zur Gitarre, er
sang, »Ich träume, dass ich hinter dem Zug zurückbleibe«. Es gab andere Züge in unserer Kindheit, wie jenen »Schützenpanzerwagen, der auf dem Reservegleis« stand, denn wir waren alle »friedliche sowjetische Menschen«, aber das war nicht mein Zug, denn mein Zug war weg, und ich musste ihn einholen.
     
    Wieder und wieder setzt sich der Zug

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