Vielleicht Esther
sagte meine Mutter, als glaubte sie gleichzeitig an Darwins Evolution und Ovids Metamorphosen und als wäre sie alarmiert, was nun aus mir werden wird.
Auf dem Foto ist mein Großvater Wassilij zu sehen, ein schöner Mann mit schmalem Gesicht und feinen Zügen. Er stützt sich auf sein linkes Knie, auf dem Tisch liegt eine schwere Tischdecke mit Fransen, darauf ein Korb voller Rosen. Rosa tanzt keck auf dem Tisch, etwas aus einer Operette von Kálmán, »Die Schöne, die Schöne, die Schöne aus dem Cabaret«. Ich kann auf diesem Bild nichts verändern, nur den Rosenkorb ein wenig zur Seite schieben, hier geht es um einen Heiratsantrag, so wurde uns erzählt,
ein Korb voller Rosen und Rosa, die Logopädin, auf dem Tisch.
Als die Herzschmerzen stärker wurden und Rosa die Namen Anna und Ljolja rief, ihre Mutter und ihre Schwester, die auf der Bolschaja Shitomirskaja ihrem Tod entgegengegangen waren, schickte mir meine Mutter ein Telegramm nach Leningrad. Rosa starb auf einer der obersten Etagen des Klinikums. Zehn Minuten nach ihrem Tod trat meine Mutter ans Fenster und sah, wie ich dort unten quer durch den riesigen Hof eilte und im über Nacht gefallenen Schnee Spuren hinterließ, wie ein Vogel, sagte sie.
Die letzte Mutter
Auf der Flucht vor dem Krieg, nach monatelangen Wanderungen, fand meine Großmutter Rosa Arbeit in einem kleinen Ort namens Kinel-Tscherkassy im Südural. Der Leiter der Kreisbehörde vertraute ihr zweihundert Kinder an, Rosa sollte ein Waisenhaus aufbauen, leiten und verwalten, ein Waisenhaus für zweihundert halbverhungerte Kinder aus Leningrad, keines darf sterben. Der Leiter der Kreisbehörde habe noch etwas anfügen wollen, erzählte mir meine Mutter, habe sich dabei aber verschluckt, dann habe er meiner Großmutter Hilfe versprochen, doch etwas Unausgesprochenes sei hängengeblieben, etwas wie sonst … Erschießung . Vielleicht hing dieses Wort einfach in der Luft wie eine alte Gewohnheit, eine Routine der Kriegszeiten, denn sogar die berühmte Formel Kein Schritt
zurück! Hinter uns ist Moskau! drohte damit. Die Worte sonst Erschießung saßen einem zuvorderst auf der Zunge, man musste sich bezähmen, damit sie einem nicht aus dem Mund fielen, einfach so, wie bei der Krähe das Gekrächz. Vielleicht wollte der Leiter auch nur sagen, dass die Kinder sehr schwach waren und ihr Leben in Gefahr sei, wenn Rosa sich nicht beeile.
So wurde Rosalia Krzewina-Owdijenko, ehemalige Direktorin der Kiewer Taubstummenschule, im Frühjahr 1942 Direktorin eines Waisenhauses für zweihundert Leningrader Blockadekinder im Ural – ein Kriegsbefehl. Sie hatte sich beeilt, und alle hatten geholfen. Militäreinheiten, die an die Front gingen, gaben den Kindern einen Teil ihres Proviants, nahe gelegene Kolchosen und die lokale Bevölkerung halfen mit Kleinigkeiten, alle hungerten. Die Kinder waren schwach, einige bereits im fortgeschrittenen Stadium des Hungers, distrofiki , die der Blockade Leningrads auf der sogenannten Straße des Lebens über den Ladogasee entkommen waren. Keines von Rosas Waisenkindern ist gestorben.
Ich kann nicht anders, als an die Rochaden des Schicksals zu denken, an die Zufälle in Raum und Zeit. Denn damals war auch Janusz Korczak, der Nachbar und Kollege von Rosas Vater Ozjel in Warschau, evakuiert worden, ebenfalls mit zweihundert Waisenkindern – auch ein Kriegsbefehl. Janusz Korczak wurde angeboten, sich selbst zu retten, ohne die Kinder.
In Kiew hatte Janusz Korczak während des Ersten Weltkriegs sein Buch Wie man ein Kind lieben soll begonnen, wobei es im polnischen Titel kein soll gibt, nur in der deutschen Übersetzung, auf Polnisch heißt es Wie man ein Kind liebt , drei Worte nur, Wie lieben Kind , sein Buch begann Korczak in Kiew, in der Straße, wo später meine Großmutter wohnte, wieder waren sie Nachbarn in Raum und Zeit, ohne es zu wissen, er schrieb in Kiew, weil ihn der Erste Weltkrieg in meine Stadt gebracht hatte, dann kehrte er nach Warschau zurück. Wären mein Urgroßvater Ozjel und meine Großmutter Rosa damals zurückgegangen, wären sie und ihre Waisenhäuser, ihre Waisen und ihre eigenen Kinder, Nachbarn von Janusz Korczak geworden, mit allen folgenden Adressen.
Rosas wichtigste Aufgabe als Direktorin bestand darin, Essen aufzutreiben. Sie musste dem einen Halbverhungerten etwas wegnehmen, um einem anderen Hungernden etwas zu geben. Sie fuhr Tag und Nacht durch die Dörfer mit dem Ziel, bei den Anwohnern Proviant zu
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