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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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sammeln, einmal wäre sie beinahe erschossen worden. Von einer weitab liegenden Kolchose wurden ihr zwei Fässer Öl für die Kinder geschenkt, ein seltenes Glück. Als sie in der Nacht mit dem Fuhrwerk zurückkam, war ein Fass leer, doch in den Papieren stand zwei volle Fässer. Das bedeutete Kriegstribunal wegen Diebstahls. Niemand glaubte, dass Rosa imstande gewesen wäre zu stehlen, aber das Gesetz des Krieges war stärker als jeder Glaube. Lida, Rosas ältere Tochter, die große Schwester meiner Mutter, damals fünfzehn, überredete die Verantwortlichen zurückzufahren, und nach Dutzenden von Kilometern fanden sie eine Ölspur.
    Langsam kamen die Kinder zu Kräften, langsam gewannen sie ihre Sinne zurück. Nun zeigte sich, dass sie kleine Musiker und Tänzer waren, evakuiert auf Geheiß des Leningrader Palastes der Pioniere , wo sie Unterricht hatten, unter ihren Begleitern waren ihre Musik- und Ballettlehrer. Ballettschuhe gab es keine, so förderte die Armut die Moderne, die Kinder tanzten barfuß und frei, in selbstgebastelten Umhängen schwebten sie durch den breiten Flur des Waisenhauses. Sie führten Konzerte auf, in der Umgebung und vor dem Militär.
     
    Das Reserve-Luftregiment Nummer 5 wurde besser versorgt als andere Abteilungen und teilte seine Vorräte mit dem Waisenhaus. Manchmal spielten die Piloten mit den Kindern, sie vermissten ihre Kinder, und den Kindern fehlten die Väter. Meine Mutter besaß damals zwei wunderschöne Kleider, aus dunkelroter und dunkelblauer Seide, ihr Vater hatte sie aus dem von der Sowjetunion frisch eroberten Litauen mitgebracht, als Landwirt war er 1940 dorthin gefahren, um Kühe zu kaufen. Rosa hatte diese Kleider für ihre Tochter mitgenommen, als sie Ende Juli 1941 aus Kiew floh, Wintersachen hatten sie keine dabei, vielleicht dachten sie, bis zum Winter sind wir zurück, vielleicht dachten sie in der Eile auch nichts.
     
    Rosa, damals sechsunddreißig Jahre alt, hörte zwei Jahre lang nichts von ihrem Mann, sie war überzeugt davon, dass alle im Leiden vereint waren, und so stellte sie keine persönlichen Ansprüche an das Leben. Sie wohnte im Flur des Waisenhauses, zusammen mit ihren beiden Töchtern, dort, wo auch die Proben stattfanden, zwischen Tanz, Ge
sang und Orchestervorspielen, nur durch einen dünnen Vorhang von der Kunst getrennt.
    Waren diese Kinder wirklich Waisen? Oder wurden sie nur Waisen genannt, weil sie ohne ihre Eltern evakuiert worden waren? Hatte sich jemand bemüht, nach den Eltern zu suchen? Oder war man sicher, dass die Eltern tot waren? Es hieß, die Eltern der Kinder wären in der Blockade vor Hunger gestorben oder an der Front gefallen, niemand fragte nach.
     
    Einmal kam doch eine Mutter. Sie trug Uniform, und sie war schwer krank. Vielleicht war sie die letzte von den Müttern der Waisenkinder. Seit langem hatte sie nach ihren Kindern gesucht, sie waren hier, ein kleiner Junge und ein Mädchen von zehn Jahren. Als ihre Mutter kam, waren die Kinder gerade in der Schule. Sie unterhielt sich lange mit Rosa, die die Kinder auf den Besuch vorbereiten sollte. Meine Großmutter habe die Frau dazu überreden wollen wegzugehen, ohne ihre Kinder zu sehen, sagte mir meine Mutter.
    Die Mutter der beiden Kinder war von der Front abkommandiert worden, sie hatte offene Tuberkulose und wollte nur noch zu ihren Kindern. Sie war hoch ansteckend und konnte nicht im Waisenhaus bleiben, Rosa fand ein Zimmer in der Nähe, wo ihre Kinder sie besuchen konnten. Nach zwei Wochen starb die Mutter, die Kinder waren in der Schule. An diesem Tag gab es wieder ein Konzert, der Vereinigte Chor des Waisenhauses trat vor Soldaten auf, die am nächsten Tag an die Front mussten. Rosa sagte dem Mädchen, ihr müsst nicht singen. Aber das Mädchen sagte, nein, wir singen.
    Mogendovid
    Auf meiner Polenreise im Jahr 1989 kam ich auch nach Warschau, der Stadt, in der im Jahr 1905 meine Großmutter Rosa geboren wurde, damals gehörte Polen noch zu Russland.
    Alles roch anders. Ich flanierte in der wiederaufgebauten Altstadt, ging in jede Kirche, spazierte im Park. Dann streifte ich durch die langgezogenen neuen Straßen mit den hellgrauen und gesichtslosen Hochhäusern, die vorsintflutlichen Wesen mit leeren Augenhöhlen glichen. Das alte Warszawa gab es nicht mehr. Irgendwo am Ende einer dieser langen Straßen sah ich alte, halbzerstörte Häuser. Sie standen dort wie aufgeschlagene Bücher, nackt, das Innere nach außen gewendet, dem Himmel zu und den Menschen, und froren

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