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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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die Urkunde der Eheschließung von Ozjel Krzewin mit Estera Patt 1895, zu meinem Erstaunen in kalligraphischem Russisch, eine Szene wie aus dem Volkstheater. Die handelnden Personen:
     
    Hudesa Krzewina, die Mutter von Ozjel Krzewin, Analphabetin.
    Ozjel Krzewin, der Bräutigam, Sohn der Hudesa, Vater unbekannt, zwanzig Jahre alt
    Estera Patt, die Braut, taubstumm und minderjährig
    Zelig und Chaja Patt, die Eltern von Estera
    Juda Wolfovich Erdberg, der Trauzeuge
    ein Notar namens Sikorsky
    der Rabbiner
     
    Sie verständigen sich mühelos mit Gebärdensprache, hielt der russische Schreiber in der Heiratsurkunde fest, und ich notierte: Vater unbekannt, Mutter Analphabetin, die Braut taubstumm.
    Aber das erzählst du nicht in deinem Buch, sagte meine Mutter, als ich ihr davon berichtete. Ich dachte, sie sei über die Analphabetin gestolpert, denn sie meinte immer, wir wären seit Adam und Eva belesen und dazu auserwählt, andere zu bilden, aber was sie empört hatte, war Vater unbekannt , er hatte doch seine Schule und seinen Beruf vom Vater, sagte sie, und wenn er nie darüber gesprochen hat, dass er ein uneheliches Kind war, dann geht es gegen seine Ehre, und auch du handelst dir keine Ehre ein, wenn du davon erzählst, vielleicht war es eine besondere Liebe, von der wir nichts wissen.
    Ich fand aber nur Dokumente, und als ich den Eintrag Ad. Krzewin im Handelsbuch von Kalisz 1931 sah, dachte ich, ein Adam, wie schön, meine Mutter wird sich freuen, ich jedenfalls freute mich über diesen kleinen Spalt zum Paradies, der sich in diesem Namen aufzutun schien. Wir alle sind durch Adam verwandt. Ad. Krzewin, Inhaber der Druckerei Polonia. Von Mira wusste ich, dass auch Zygmunt lange als Typograph gearbeitet hatte. Typograph war ein verbreiteter Beruf unter Taubstummen und ihren Angehörigen, hat mir meine Mutter einmal erzählt, denn sie hörten den Lärm der Maschinen nicht, sie waren auf das Sehen ausgerichtet und darauf, die Buchstaben zu fixieren, Reihe für Reihe, und die Schrift zu erstellen. Im Büro für Zivilakten öffnete die Beamtin einen Folianten. Adolf!, platzte sie heraus, Adolf Krzewin, geboren 1899, gestorben 1938, der Sohn von Ozjel und Estera. Ein Adolf unter meinen Juden, related through , damit hatte ich als letztes gerechnet. Er war der Bruder von Zygmunt, und niemand wusste von ihm. Hatten sie zusammen in der Druckerei gearbeitet? War Adolf taubstumm?
    Die taubstumme Mutter der beiden, Estera Patt, so wurde mir erzählt, war bereits Anfang des Jahrhunderts gestorben, danach hatte Ozjel Anna Levi geheiratet, und so kam meine Großmutter Rosa zur Welt. Ich hielt Esteras Anmeldungskarte in der Hand, mit allen Adressen, sie war oft umgezogen.
    1931: Targowa, 9
    1931: Brzezina
    1932: Margowiska
    1933: Piaskowa 7
    Estera war nicht früh gestorben, sie lebte ein Jahr länger
als der 1939 in Kiew gestorbene Ozjel. Nun war klar, dass Zygmunt, der erste Sohn meines Urgroßvaters Ozjel, in Polen bei seiner Mutter Estera geblieben war, wie auch Adolf, und ich las die weiteren Adressen von Estera:
    1935: Winiary
    1935: zam. Piłsudskiego 35,
    1936: Stawiszyńska, 13
    1938: Stawiszyńska, 13
    die letzte Zeile steht auf Deutsch
    28/1 1940: Abg. in unb. Richt.
     
    Es nieselte. Ich fotografierte die Häuser im Nieselregen. Wir hatten eine lange Adressliste aufgeschrieben, wer wo gewohnt hat, darunter die Adresse einer Spitzenfabrik, die jemandem von den Meinigen gehört hatte und noch im Ersten Weltkrieg zerstört worden war, ich hatte nicht einmal den Wunsch, hier etwas zu finden, Hauptsache, wir suchen, es ging mir um die Restitution des Geistes, deutlicher konnte ich es nicht sehen, denn es nieselte, und ich fotografierte das Nieseln, um etwas aus Kalisz mitzunehmen.
    Hila schloss das Tor zum jüdischen Friedhof auf. Wie Unkraut ragten die wenigen verbliebenen Gräber aus der Erde. Sie zeigte mir das Grab des Kaliszer Rabbi, der Zygmunt Krzewin und Hella Hammer getraut hatte. Das Gras war nass, mir war kalt, ich wollte weg von hier, doch Hila sagte, du hast auch ein Grab in Kalisz, das Grab von Adolf, es ist nicht erhalten geblieben, aber das sagte sie so, als genüge es zu wissen, dass es einmal da gewesen ist, um es zu besitzen.
    Wir suchten im Internet nach allen Krzewins in Polen und
fanden eine römisch-katholische Kunigunda in Kalisz, und obwohl sie nicht zu unserer Sippe gehören konnte, haben wir im Vorbeigehen ihr Haus aufgesucht, im Erdgeschoss war ein Dessous-Geschäft. Dann fanden wir noch

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