Vielleicht Esther
Familiennamen erfuhr, wusste ich sofort, wir sind trotzdem echt, die Sterns sind und bleiben Gespenster, eine Stern werde ich nie werden. Semjon durchlief eine revolutionäre Taufe, die den kleinen Leuten Gleichberechtigung versprach: Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Menschen und Proletarier.
Seither trug Semjon als einziges seiner Geschwister den Namen Petrowskij, ein Stein unter Sternen, und er hatte lange nichts mehr gehört von seinem immer schon etwas sonderbaren Bruder, dessen Name aus einer fernen Vergangenheit kam, aus einer Welt, in die kein Weg mehr führte.
Als die Besucher vom Geheimdienst zwei Monate nach dem Attentat und einen Monat nach Sterns Hinrichtung in Semjons Odessaer Wohnung eindrangen, war er nicht da. Alle Anwesenden wurden verhört, alle Zimmer planmäßig auf den Kopf gestellt. Meine Großmutter Rita, hochschwanger, bekam vor Schreck vorzeitige Wehen.
Van der Lubbe
Obwohl mein Vater seinem Onkel Judas seine Frühgeburt verdankte, wusste er lange Zeit kaum von dessen Existenz, sie wurde vor ihm verheimlicht, zu seinem eigenen und der ganzen Familie Schutz. Mit Judas zu sympathisieren hätte Verdacht erregen können, es ist aber nicht bekannt, ob jemals jemand mit ihm sympathisiert hat. Es war lebensgefährlich, sich an Judas Stern zu erinnern. Er selbst hatte keine Sekunde lang über die Folgen seiner Tat für seine Angehörigen nachgedacht. Wie sollten sie ihn dann im Familiengedächtnis bewahren?
Als mein Vater Ende der fünfziger Jahre zufällig in der Geschichte der sowjetischen Diplomatie zwei Zeilen über das Attentat las, wusste er sofort, dass Jeguda Mironowitsch Stern und der verschwundene jüngste Bruder seines Vaters ein und dieselbe Person sein mussten. Er fragte seinen Vater, aber der Vater schwieg. Er fragte wieder, und der Vater winkte ab, wich aus, flehte seinen Sohn an, ihn nie wieder nach seinem Bruder zu fragen, und irgendwann verbot er ihm, den Namen auch nur zu erwähnen.
Mein Vater blieb stur und setzte sich über dieses Verbot hinweg, viele Jahren später fragte er wieder nach, bis mein Großvater Semjon einen knappen Kommentar zum Geschehen abgab, um danach nie mehr ein Wort über das Attentat seines kleinen Bruders zu verlieren.
Van der Lubbe, stieß Semjon hervor. Van der Lubbe.
Ich verstand sofort, erzählte mein Vater, er wollte sagen, dass auch sein kleiner Bruder nicht ganz bei sich war, wie der Brandstifter des Reichstags. Mit diesem Van der Lubbe deutete er nicht nur an, dass Judas Stern bearbeitet und losgeschickt, sondern auch, dass er von gewissen Kräften missbraucht worden war, die ihn zu der Tat verleitet hatten, um später andere zu beschuldigen. Verstand mein Großvater, dass auch Judas' Tat am Anfang einer langen Kette von Ereignissen stand? Und hat er mit Van der Lubbe mehr verraten, als er wollte?
Jahrelang fragte ich meinen Vater, ob das tatsächlich alles gewesen sei, was Großvater Semjon damals gesagt hat, und irgendwann, viele Jahre später, meinte mein Vater, sich an das Wort Meschuggener zu erinnern. Van der Lubbe und so ein Meschuggener , habe sein Vater ihm damals gesagt. Doch mein Vater erinnerte sich nicht mehr, ob sein Vater ihm damals erklärt oder ob er selbst erst später verstanden hatte, dass Judas Stern von Kindheit an etwas verrückt gewesen war. Mein Vater erinnert sich daran, wie sein Vater, wiederum Jahre später und ohne Anlass, gesagt habe, In jeder jüdischen Familie gibt es einen Meschuggenen, oder sogar Keine jüdische Familie ohne Meschuggenen. Mein Großvater hatte fünf Geschwister und konnte
sich so einen Satz gestatten. Ich habe nur einen Bruder. Er oder ich?
Das Wort Meschuggener ist das einzige jiddische Wort, das meiner Familie geblieben war. Ist die Verrücktheit meine letzte Verbindung mit dem Judentum?
Damoklesschwert
Die Angst, dass seine Kinder für das Attentat seines Bruders bezahlen müssten, hat aus meinem Großvater Semjon den schweigsamsten Menschen der Nachkriegszeit gemacht. Was genau Semjons Arbeit gewesen war, wusste mein Vater nicht. Alles, was mein Vater über seinen Vater, den Bruder von Judas Stern, wusste, war, dass er in den Organen gearbeitet hatte, wie man damals den Geheimdienst nannte, in der Verwaltung und später in der Versorgung. Im Jahr 1937 tat er das Unmögliche, er trat aus dem Geheimdienst aus, nachdem er den Fall seines Schwagers auf den Tisch bekommen hatte,
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