Vielleicht Esther
polnische Schule, Polnisch konnte sie damals noch nicht gut.
Aber ich bin ja gar nicht Ihre Blutsverwandte, entschuldigte sich Mira plötzlich, vielleicht finden Sie die andere Geschichte interessanter. Es gibt einen Blutsverwandten von Ihnen, der den Krieg überlebt hat, sagte Mira, Gutek Krzewin, Gutek, Gustaw, das einzige Kind von Zygmunt und Hela. Als seine Mutter aus dem Warschauer Ghetto abgeholt wurde, hatte ihm ein polnischer Freund der Familie arische Dokumente besorgt, als Tadeusz Podkulecki konnte er sich retten. Während des Krieges kam er, ein junger polnischer Arbeiter, der Autos liebte, nach Graz, später erkämpfte er sich einen Platz bei Opel in Wien, und schließlich schaffte er es sogar nach Berlin, wo er für die Organisation Todt Brücken und Straßen baute. Am Ende des Krieges flüchtete er nach Italien, schloss sich der britischen Armee an, kam nach England und wurde von einer katholischen Familie aufgenommen. Von seinem früheren Namen, vom Ghetto oder von seinen Eltern erzählte er niemandem. Jetzt hieß er Anthony Gorbutt.
Diese Gorbutts sind Ihre Verwandten, sagte Mira, sie leben in London.
Ich hatte erwartet, dass Mira mir von der Vergangenheit berichten würde, von Zygmunt und Hela, von deren Eltern, aber sie erzählte von meiner neuen Verwandtschaft und in die Zukunft hinein, von Karen und Sarah, den beiden englischen Töchtern von Tony Gorbutt, Gutek Krzewin, und deren insgesamt vier Kindern, die alle in London lebten, und sie erzählte von einem späteren Sohn von Tony
namens Simon. Meine Cousinen Karen und Sarah führten, ohne es zu wissen, die Familientradition der Krzewins weiter, sie waren Lehrerinnen geworden wie viele von uns seit Generationen, von denen meine Cousinen nichts wussten. Dann kamen noch Didi mit weiteren drei Kindern und Didis Vater Mietek in Israel hinzu, und irgendwann konnte ich Mira nicht mehr folgen, sie machte immer neue Kurven, wer mit wem, wo sie lebten und in welcher Beziehung sie zueinander standen und zu mir. Nie hatte ich mich für eine so entfernte Verwandtschaft interessiert – rücken wir tatsächlich zusammen?
Tony Gorbutt ist Mitte der achtziger Jahre gestorben. Warum hatte er einen so offensichtlich fremden Namen angenommen? War es der Name seines polnischen Retters? Der Name eines Freundes, der gefallen war? Erst in den sechziger Jahren, nach langer Suche, fand Mira Gutek in England, er hatte den Beruf eines optischen Technikers erlernt, war bei einer koscheren Cateringfirma und arbeitete später für Night Clubs.
Er war ein sehr schöner Mann, sagte Mira, und wusste diesen Vorzug in seiner Arbeit zu nutzen. Den Namen Anthony Gorbutt hatte er aus dem Telefonbuch. Zufällig.
Mira hörte schlecht, ich musste schreien, und so schrie ich aus meiner Berliner Wohnung hinüber nach Oak Ridge, alle meine Fragen nach Zygmunt, dem Halbbruder meiner Großmutter, nach Hela, Warschau und Kalisz, nach Life Beyond the Holocaust , dann schloss ich mich im Bad ein und überlegte, ob die Nachbarn in meinem hellhörigen Berliner Haus meinen Fragen hatten folgen können. Ja, Mira hatte Zygmunt noch persönlich gekannt, er war Typo
graph und druckte die Filmtickets für alle fünf Filmhäuser von Kalisz, und im Sommer, wenn Mira bei ihren Großeltern in Kalisz war, schaute sie so viele Filme an, wie sie nur konnte, denn Zygmunt besorgte Tickets umsonst. Mira wusste auch, dass Zygmunt und Hela in Kiew gewesen waren, um Verwandte zu besuchen – oder wiederholte Mira nur, was ich ihr erklärte? Wir wollten beide so sehr, dass alles stimmte. Katja, Sie müssen unbedingt zur Hochzeit nach Malaga, sagte Mira. Simon, Guteks jüngster Sohn, heiratet im Mai. Und so habe ich eine neue Familie, related through Adam, sozusagen, über tausend Ecken.
Es heißt, es sei eine Mischung aus Lebenswillen, Zufall und Glück, doch in welchem Verhältnis? Mira ist nicht verbittert, nicht gebrochen. Sie heiratete, bekam zwei Söhne, arbeitete und unterrichtete. Wenn es in diesem Bereich einen Wettbewerb gäbe, würde Mira den Rekord im Überleben halten. Sie meint, dass es an einem kleinen Blechnapf gelegen habe, den sie hätte retten sollen, ich hatte es meinem Vater versprochen, sagte sie. Durch alle Lager hindurch, in denen man nicht einmal eine Nadel hätte verstecken können, war es ihr gelungen, diesen Blechnapf mit Familienfotos und Papieren aufzubewahren, später hat sie damit ihre Bücher illustriert. Am Ende habe nicht sie den Blechnapf gerettet, sondern
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