Vielleicht Esther
diese E-Mail, diese Nachricht wurde maschinell erstellt. Ich schrieb an die Bestelladresse, ships from the UK , an den Versand aus England und aus Amerika, an irgendwelche Depots mit Nummern, die mir die Bücher zu liefern versprachen, in vier bis sechs Wochen. Ich erklärte ihnen, warum ich die Bücher von Mira sofort haben müsse, erläuterte den Maschinen, was es bedeutet, den Holocaust zu überleben und nach mehr als siebzig Jahren von mir gefunden zu werden, Miras Verwandter und treuer Kundin von Amazon, und dass es sich um einen der seltenen Fälle handle, wo Zeit alles sei. Es wirkte. Umgehend antwortete mir ein gewisser Hagar Abdelfattah, er versprach, alles zu tun, um mir zu helfen, aber früher als in drei Tagen gehe es wirklich nicht, sorry. Ich stellte mir vor, wie er – vielleicht ein Ägypter? – in der Dämmerung durch die endlosen Containerreihen in den Londoner Docks geht, eine Taschenlampe in der Hand, um Life Beyond the Holocaust für mich zu finden. Ich spürte die Macht von Mira, die dem anonymen Tod entgangen war und nun menschliche Stimmen aus der Anonymität erweckte. Ehrlich gesagt, ich hatte damit gerechnet.
Im Internet sah ich, dass aus Miras nächster Familie nur zwei Menschen überlebt haben, sie und ihr Vater Moritz. Nach dem Krieg sind sie nach Amerika gezogen. Sie lebten
schon in Oak Ridge, als Moritz mit der resoluten Handschrift eines erfolgreichen Danziger Kaufmanns zwanzig Testimonies für Yad Vashem niederschrieb, für seinen Sohn, seine Frau, seine Eltern, seine Geschwister und deren Kinder. Benno, Schlomo, Sara, Rozka, Leon, Celina, David, Genia, Joseph, Gucia, Aron, Esther, Efraim, Maryla, Hella, Roma, Tillie. Ich lese die Records von diesen Verwandten, die ich siebzig Jahre nach ihrem Tod im Internet gefunden und sofort wieder verloren hatte, und beschließe, Mira am Montag anzurufen.
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Am Sonntagabend klingelte das Telefon, Viktor Rashkovsky, ein alter Freund meines Vaters, der mich noch nie angerufen hatte. Ich war außerstande, mich zu wundern. Viktor, wie auch mein Vater, gehörte zur Dissidentenszene in Moskau, so definiert man es heute flott. Anfang der siebziger Jahre emigrierte Viktor in die USA und landete irgendwo in der amerikanischen Provinz, wo er, von Haus aus Filmsoziologe, Reformrabbi wurde. Einmal hatte ich ihn in Berlin zufällig bei einem Hauskonzert getroffen. Erst spielte jemand Schubert, danach wurde in vielen Sprachen gesprochen, Italienisch, Deutsch, Hebräisch, Russisch, Englisch, Polnisch. Ich erzählte von Kiew, plötzlich sprang ein alter Mann auf und fragte mich streng, wie ist Ihr voller Name? Ich antwortete, und er erwiderte, dann bist du die Tochter von Miron! Fünfunddreißig Jahre nach seiner Emigration aus Moskau hatte Viktor Rashkovsky
mich in einer für uns beide fremden Stadt erkannt, ohne an mich zu denken, ohne mich jemals gesehen zu haben, einzig durch das Wort Kiew und eine mir nicht bewusste Ähnlichkeit mit meinen Eltern. Nicht schlecht für einen Rabbi, dachte ich.
Das war vor fünf Jahren, und nun rief er mich an. Wissen Sie, Katya, warum ich Sie anrufe?, fragte er mich, und ich wusste es sofort, aber mein Wissen schien mir absurd. Er sagte, ich bin durch meine Gemeinde gegangen und habe die Alten besucht, wie gewöhnlich, und eine Dame, die hier sehr verehrt wird, erzählte mir, eine Verwandte aus Berlin habe sie gefunden, und sie zeigte mir einen Brief. Ich las zuerst über eine polnisch-russische Familie, und als ich dann Ihren Namen sah – Katya!
Der einzige Rabbi, den ich kannte, war der Rabbi der einzigen Überlebenden unserer polnischen Sippe. Viktor hatte auch keine Erklärung, und Mira brauchte keine. Dann riefen sie mich beide an, Viktor und Mira. Erst sprach Viktor. Ich dachte kurz über das Paradoxon ihrer beider Namen nach, als ob Sieg (Viktor) und Frieden (Mir) mich gleichzeitig anriefen, aber dann begann Mira, mit mir Deutsch zu sprechen. Es verschlug mir den Atem. Sie sprach nicht nur besser Hochdeutsch als ich, es war Vorkriegsdeutsch, langsam und gepflegt, mit der Verzögerung alter Schauspieler, es war, als hörte man dabei das Knarren des Grammophons oder das Knistern von Zelluloid. Kein Hauch von Jiddisch, kein polnischer Akzent. Deutsch war Miras Muttersprache. Sie stammt aus Zoppot bei Danzig, war in Danzig aufgewachsen und vier Jahre älter als Günter Grass. Sie hatte dort ein deutsches Gymnasium besucht, solange das noch möglich war. Nach dem Verbot
ging sie auf eine
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