Vielleicht Esther
einen Hary Krzewin, einer von uns. Er starb noch im Säuglingsalter. Das Erstaunen darüber, dass es ihn gegeben hatte, wog schwerer als die Tatsache, dass er kaum gelebt hatte, ich dachte an ihn, an Adolf, an Kunigunde, die nichts mit uns zu tun hatte, und an einen Roman mit dem Titel Adolf, Hary und Kunigunde, aber dafür fehlte mir der Stoff.
Die Vergangenheit betrog meine Erwartungen, sie entschlüpfte meinen Händen und beging einen Fauxpas nach dem anderen. Mein Stammvater, der die ruhmreiche Geschichte meiner Familie erzählte, war ein uneheliches Kind, doch das durfte ich nicht schreiben, außerdem war Ozjel gar nicht früh verwitwet, und dann noch dieser Adolf, damals ein gewöhnlicher Name, doch für mich ein alarmierender. Adolf bestätigte meine Befürchtung, dass ich keine Macht über die Vergangenheit habe, sie lebt, wie sie will, sie schafft es nur nicht zu sterben.
Verlorene Buchstaben
Die Taubstummen verschwanden durch den
Generalstabsbogen und spannen weiter ihr Garn,
doch schon bedeutend ruhiger, gerade so, als schickten
ihre Hände nun nach allen Seiten Brieftauben.
Ossip Mandelstam
Die Geschichten der Krzewins ergaben keine gerade Linie, sie kreisten und kreisten, rissen ab, wie die Kaliszer Spitzen, ich sah kein Ornament, nur kleine Fetzen, uneheliche Kinder, nie gehörte Namen, verlorene Fäden, unnötige Details. Ich sollte spinnen, beherrschte aber keine Handarbeit. In diesem Moment wurde mir Verstärkung geschickt, in der Gestalt von Pani Ania. Sie war nicht nur in die Stadt Kalisz verliebt, sondern auch – und das ist höchst ungewöhnlich mitten in Polen – in Nikolaj den Zweiten, den letzten russischen Zaren. Sie zeigte mir die schönsten kościoły der Stadt, die Reliquien der heiligen Ursula, ich wollte unbedingt den Kelch von König Kazimierz sehen, doch als ich meine Bewunderung für den Katholizismus äußerte, erklärte mir Pani Ania in gepflegtem Englisch, sie sei praktizierende Muslimin und habe vier Jahre in London studiert, und jetzt arbeite sie im Gefängnis von Kalisz. Sie war die perfekte Andere, fremd und doch wie ich, und ich dachte, mit solchen Menschen ist Polen tatsächlich nicht verloren. Ausgerechnet Pani Ania zeigte mir die jüdischen Buchstaben im Straßenpflaster von Kalisz.
Die Menschen gingen in schnellem Schritt, es nieselte immer noch, und niemand schien zu wissen, dass einige Stra
ßen der Stadt mit Grabsteinen aus dem alten jüdischen Friedhof gepflastert waren. Noch während des Krieges, als es in Kalisz keine Juden mehr gab, wurden aus dem Friedhof die Mazewen entfernt, die jüdischen Grabsteine, sie wurden in Quadrate zersägt und auf die Straße gelegt, mit der Rückseite nach oben, so dass man die hebräischen Buchstaben nicht sah, wenn man auf die Steine trat. Es war ein System der Vernichtung mit mehrfacher Sicherung. Ob man davon weiß oder nicht, jeder, der die Straßen von Kalisz entlanggeht, tritt die Grabsteine mit Füßen.
Vor ein paar Jahren wurden in der Stadt neue Leitungen verlegt, man entfernte die Steine und legte sie wieder zurück, doch diesmal hatte niemand aufgepasst, einige Steine wurden umgedreht, und die hebräischen Buchstaben kamen zum Vorschein. Pani Ania zeigte mir ein paar, und ich versuchte, weitere zu finden. Ich musste die Autos abwarten, denn die Buchstaben gab es nur auf der Fahrbahn.
Ich entdeckte zwei oder drei, dann zwanzig Meter nichts, dann wieder ein Buchstabenstein, drei Meter weiter noch ein paar, ein Glücksspiel, dessen Regeln niemand festgelegt hat und das jedem offensteht, ein Memory für Erwachsene, aber niemand spielte mit, denn niemand sah diese Buchstaben. Ich war so auf meine Buchstaben fixiert, dass ich die Autos nicht hupen hörte, nur ein Lied in meinem Kopf: »Hey, Jude«, summte es, »and any time you feel the pain, hey Jude, refrain«. Ich ging von Haus zu Haus, von Stein zu Stein, hier hatte jemand der Meinigen gewohnt, dort ein Kino, eine Druckerei, ein Buchstabe, es nieselte, ich sammelte, noch einer, hier wieder einer, ich unternahm eine fragwürdige Restitution von verschwundenen Dingen, die ich nicht haben und nicht deuten konnte, selbst der typische Beruf der Taubstummen, Typograph, wenn das überhaupt je zutraf, existierte nicht mehr.
Ich wollte aber nicht, dass die Menschen auf ihren Spaziergängen in der Stadt in Trauer verfielen, auf diesem unsichtbaren Friedhof der fremden Nachbarn, die nicht mehr da waren. Ich wollte nicht, dass die Bewohner von Kalisz, wenn sie
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