Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
Vom Netzwerk:
der Blechnapf sie.
     
    Ich schaute mir die Landkarte an. Miras Weg durch den Krieg, ihre Route durch Europa, sah sehr schön aus. Der Weg beschrieb beinahe eine Rundung, wie eine leicht verzierte Stadtmauer, in Lucca zum Beispiel oder Dubrovnik. Die Stationen lauten Danzig, Warschau, Tomaszów Mazo
wiecki und Bliżyn-Majdanek, Auschwitz-Birkenau, Hindenburg, Gleiwitz, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen. Ein Ghetto, fünf KZ und ein Todesmarsch. Wie oft hätte sie sterben können? Als das Warschauer Ghetto noch nicht geschlossen war, aber alle Juden schon eine Armbinde mit dem Judenstern tragen mussten, hatte sie ihre Binde abgenommen und war in einen Zug gestiegen, der aus Warschau hinausfuhr. Der Zug wurde mehrmals kontrolliert, aber sie wurde nicht nach ihren Dokumenten gefragt, die Frage hätte ihren Tod bedeutet. Im Ghetto von Tomaszów Mazowiecki verließ sie frühzeitig das Hospital, aus reiner Sturheit, kurz danach wurden alle Kranken und Ärzte getötet. Dann hatte sie das Glück, zuerst in ein Arbeitslager zu kommen und nicht gleich nach Treblinka. Brille weg, flüsterte jemand in Auschwitz, als alle Kurzsichtigen in die Gaskammer geschickt wurden. Dann hat sie sich als Sekretärin ausgegeben, ohne jemals im Leben Schreibmaschine geschrieben zu haben. Im KZ Hindenburg, einem Außenlager von Auschwitz, überlebte sie Typhus, Freunde in der Küche versorgten sie mit Extraportionen Essen. Als sie erschöpft und krank war, schrieben SS -Kontrolleure ihre Nummer auf, alle wussten, was das bedeutete, aber sie wurde nicht abgeholt, weil der Lagerkommandant Adolph Taube, den man Engel des Todes nannte, den Fall deckte, wie sie dachte. Auch einen zehntägigen Todesmarsch bei minus 30 Grad und ohne Essen überlebte sie, und selbst wenn es nicht genau zehn Tage und nicht genau 30 Grad gewesen sein sollten, was ändert das? Ein alter SS -Mann hatte ihr seine Ersatzstiefel geschenkt. In Hindenburg spielten die Häftlinge Theater, und sie deklamierte den Erlkönig. Mira und Imre Kertész, der Buchenwald-
Insasse, waren vielleicht die einzigen im Deutschen Reich, die Goethes Gedicht vom Tod eines Kindes am Ende des Krieges noch zu erwähnen wagten.
    Kalisz
    Als ich nach Kalisz kam, nieselte es. Es nieselte drei Tage lang, und ich glaubte, am Ende dieser Reise zum Ursprung zu gelangen, und der Reiseführer gab mir recht, dort stand, die keltische Wortwurzel von Kalisz bedeute Quelle oder Ursprung, und hier in Kalisz und Umgebung sollen meine Krzewins mehrere Jahrhunderte gelebt haben, all die Rivkas, Raizlas, Natans, Ozjels, Józefs. Ich wusste nicht mehr, warum ich sie suchte und was die ursprüngliche Frage war, meine Suche war seit langem zur Sucht geworden, aber ich ahnte, wenn ich hier etwas fände, dann würde ich zurückkehren, obwohl ich nicht wusste, ob dieses Zuhause, in das ich zurückkehrte, in der Sprache, im Raum oder in der Verwandtschaft lag. Ich wollte eine totale Rückkehr, wie im Märchen vom goldenen Schlüssel, der auf dem Boden eines Sumpfes liegt und eine Tür aufschließen soll, man weiß lange nicht welche, und dann befindet sie sich zu Hause, dort, von wo man fortgegangen ist. Die slawische Wortwurzel von Kalisz lautet Sumpf und Moor, auch das stand im Reiseführer, was mich darin bestärkte, dass ich auf dem richtigen Weg war.
    Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als mein Urgroßvater hier lebte, war Kalisz die westlichste Stadt des russischen Imperiums, nur wenige Kilometer von der preußi
schen Grenze entfernt. Überall wurde gewebt und genäht, die Stadt war voll mit kleinen und größeren Fabriken, denn Kalisz versorgte ganz Russland mit Spitzen, überall webten Frauen Spitzen, koronka auf Polnisch, krushewo auf Russisch, ich suchte nach meinen Krzewins, und auch sie waren aus einem Gewebe entstanden, aus diesem sprachlichen Ornament. Warum hat mein Urgroßvater Ozjel seinen Sohn Zygmunt in Polen gelassen, als er mit seiner Familie nach Kiew umsiedelte? Ich ging durch Sumpf und Spitzenschleier.

     
    Im Netz war ich auf Hila gestoßen, sie war mit der Vergangenheit der Stadt vertraut, eine Historikerin, dachte ich, eine offizielle Vertreterin der jüdischen Geschichte. Sie besaß aber eine Immobilienfirma im Zentrum der Stadt und verwaltete die verschwundene Geschichte aus Berufung. Was ich suchte, wusste Hila besser als ich, ich war nicht die erste, der sie half, vor mir waren schon Kanadier, Amerikaner, Israelis bei Hila gewesen, die nach ihren Vorfahren
geforscht hatten. Im Archiv fanden wir

Weitere Kostenlose Bücher