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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Geld abheben, dort, wo früher die Synagoge war und jetzt ein Bankgebäude steht, dass sie dabei an diese ihnen fremden Toten denken, als würden sie damit Zinsen bezahlen für ihr Leben.
     
    Als es dämmerte und die Buchstaben verschwanden, erinnerte ich mich an einen Traum, den ich als Kind hatte. Der Traum kam wie ein Fremder in der Nacht, ich erschrak und wusste, mir wird eine Aufgabe gestellt, die ich nicht erfüllen kann, und ich hoffte, der Bote habe die Adresse verwechselt.
    Es war dunkel, oben auf dem Hügel schwebte eine Kirche über der Stadt, und der heilige Andreas sprach, genau wie es in der Legende heißt, hier soll eine Stadt gebaut werden. Im Traum ahnte ich, dass es kein Traum war, denn diese Stadt namens Kiew wurde tatsächlich gebaut, und dort bin ich geboren.
    Es war eine der schönsten Straßen Kiews, ich ging allein die steile Straße hinunter, spürte die schwebende Kirche in meinem Rücken und auch, dass zwei Gestalten mich begleiteten und mir schweigend den Weg zeigten, ich wanderte, sie wussten, und alles war mit Schnee bedeckt. Meine Begleiter sagten, geh hin, dort steht alles geschrieben, und ich ging durch den Schnee, der Weg war unerwartet lang, ich sank tief in den Schnee ein. Wo der Hügel anstieg und wo die Rückwand eines nicht mehr existierenden Hauses hätte sein sollen, stand ein Postament, ebenfalls mit Schnee bedeckt. Ich wusste, dass es hier ein Buch geben sollte, und ging zu dem Sockel, der so hoch war wie ein Notenständer, und das Buch lag tatsächlich vor mir, mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust, jetzt! jetzt! Doch was früher ein Buch war oder hätte sein sollen, war nun eine Eisscholle, mir schien, es sei plötzlich hell geworden, und ich verstand, dass ich zu spät kam, das Wissen war verlorengegangen, und es stand nicht in meiner Kraft, es zurückzuholen, ich hatte mich verspätet, mit meiner Geburt und überhaupt, es war keine Schuld, es war nur zu spät. Und dann erkannte ich in diesem porösen Eisblock einen Buchstaben, der sich beinahe im Schnee auflöste, er war aus Erde, und ein schmaler Grashalm ragte aus ihm hervor. Ich versuchte, den Buchstaben zu lesen, aber ich verstand nicht einmal, aus was für einem Alphabet er stammte.

Kapitel 4
In der Welt der
unorganisierten Materie
    Hausdurchsuchung
    Dieses Gesetz kenne ich nicht, sagte K.
Desto schlimmer für Sie, sagte der Wächter.
    Franz Kafka
    Als mein Vater gegen Mittag des 8. Mai 1932 das Licht der Welt erblickte, standen Geheimdienstleute des GPU um ihn herum wie die Hirten um die Krippe. Der Säugling war das unmittelbare Ergebnis einer Wohnungsdurchsuchung in Odessa, seine Frühgeburt Indiz eines Attentats, das zwei Monate zuvor stattgefunden hatte.
     
    Am 5. März 1932 hatte mein Großonkel Judas Stern mitten in Moskau auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski geschossen. Twardowski wurde verletzt, Judas Stern verhaftet, auf der Stelle.
    Stern hatte lange an der Ecke Herzenstraße und Leontjew-Gasse gewartet, nicht weit vom Kreml und nur wenige Meter vom Tschaikowski-Konservatorium entfernt. Als ein Botschaftswagen mit der deutschen Standarte um die Ecke bog, schoss er auf das Auto. Zwei Kugeln verletzten den Botschaftsrat am Hals und an der Hand, drei weitere Kugeln blieben im Polster des Autositzes stecken. Als zwei Passanten in Richtung des Attentäters eilten, schoss er wieder. Eine Kugel streifte die Wand des Kinos Union, die andere traf ein Pferd. Judas Stern warf die Pistole weg und ließ sich von Geheimpolizisten festnehmen, die wie aus dem Nichts auftauchten, als wären sie schon immer dagewesen.
     
    Judas Stern war der Bruder meines Großvaters Semjon, somit nicht nur für das Attentat verantwortlich, sondern auch für die vorzeitige Geburt meines Vaters, obwohl sie posthum geschah, einen Monat nach Sterns Tod.
     
    Man war nicht gleich auf die Spur zu Judas' ältestem Bruder, Semjon, gekommen, denn dieser lebte zwar noch in Odessa, wo auch alle seine Geschwister geboren waren, doch er trug einen anderen Familienamen. Als Semjon während der Revolution in den Untergrund gegangen war, hatte er den Decknamen Semjon Petrowskij angenommen, und als die Bolschewiki an die Macht kamen, kehrte er nicht zu seinem alten Namen Schimon Stern zurück, sondern behielt den neuen bei, so jedenfalls wurde uns erzählt. Dank ihm und der Revolution trage auch ich diesen schönen langen Namen, der aus dem niederen russisch-orthodoxen Klerus stammt. Als ich von unserem ursprünglichen

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