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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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des Bruders seiner Frau Rita, der ein Turbinenwerk in Charkow leitete. Oder war er nur als Zeuge geladen? Die Situation war ausweglos. Hätte Semjon seinen Verwandten freigesprochen, wäre er als Angehöriger eines mutmaßlichen Familienkomplotts für schuldig erklärt worden, hätte er ihn verurteilt, hätte man sagen können, Semjon selbst sei so tief in Schuld verstrickt, dass er seinen Verwandten geopfert habe, um damit die eigene Schuld zu tilgen. Er trat aus und blieb verschont. War Semjon von einem hochrangigen Funktionär protegiert worden? Aber auch diese wurden meistens ausgeschaltet,
zusammen mit ihren Schützlingen, und somit gibt es überhaupt keine Erklärung dafür, warum mein Großvater nicht erschossen wurde, außer dem Zufall, denn es gab mindestens drei Gründe, ihn zu erschießen. Er war der Bruder eines Attentäters, der Schwager eines Volksfeindes, und er ist aus dem Geheimdienst ausgetreten.
    Semjon hatte Angst um seine Kinder und vor seinen Kindern, und diese Angst hing über meinem sanften und friedlichen Vater wie ein Damoklesschwert.
    Größenwahn
    Als am 6. Juli 1918 die tödlichen Schüsse
auf den deutschen Gesandten Graf Mirbach
fielen, war es auch ein Samstag.
    Kölnische Zeitung, 9. März 1932
     
    Mein Großonkel zielte direkt auf das Sonnengeflecht der Zeit. Denn er, dieser sowjetische Attentäter namens Judas Stern, schoss eine Woche vor den Reichspräsidentschaftswahlen auf einen deutschen Diplomaten in Moskau. Es war das letzte Jahr vor Hitler und das erste Jahr der Hungersnot in der Sowjetunion, zwei Länder, die sich in einem Bündnis gegenseitig in Richtung Wahnsinn trieben. Und dann feuerte mein Stern.
    Er schoss, als wolle er noch mehr leisten als die Mörder des deutschen Botschafters Graf von Mirbach in Moskau 1918, lange her, aber in den Köpfen von damals noch frisch, denn die Schüsse führten zum Bruch in den Beziehungen zwi
schen beiden Ländern. Auch der Erste Weltkrieg hatte mit einem Attentat begonnen.
    Und ist es nicht verrückt, dass er genau in jenem Moment schoss, als der aufstrebende Nationalsozialismus sich gegen den jüdischen Bolschewismus stellte, der nach ihren Worten in der Sowjetrepublik herrschte? Stalin seinerseits wollte die deutschen Sozialisten und die deutschen Kommunisten entzweien. Das weiß man heute, doch niemand weiß, dass es mit meinem Großonkel zu tun hat.
    Je mehr ich erfuhr, desto unheimlicher wurde es mir. Wer brauchte dieses Attentat und wozu? Wer wollte die Geschichte lenken und in welche Richtung? 1932 schienen die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion harmonisch, die beiden Länder waren verbunden durch zahlreiche Abkommen, in die eine Richtung fuhren Maschinen für die Industrie, und in die andere wurden Korn und Holz geliefert, die Reichswehr erhielt den Titel Lehrmeister der Roten Armee , so waren die Zeiten. Krieg schien unmöglich, es herrschte beinahe Freundschaft, so schien es zumindest, bis Stern schoss. Danach war nichts mehr wie zuvor, als hätte dieses Attentat, das aus meiner Familie kam, etwas in der fragilen Konstellation der Zeit zerbrochen, als hätte es zukünftige Katastrophen vorweggenommen, hier wie dort, als wären wir, und ich meine auch mich, für das größte Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich, in einer mir nur zum Teil erklärlichen Weise.
    Im Archiv
    Es gab so viele Gründe, Stern für verrückt zu erklären, dass ich nicht sicher bin, ob er es war. Als Attentäter blieb er uns für immer fremd, man schießt doch nicht auf andere Menschen! Trotz seines gewaltsamen Endes war er kein Opfer. Weil er verrückt war, konnte man nicht über seine Verantwortung sprechen, und so sperrten wir ihn weg in die Vergangenheit.
    Mir blieb das Geheimdienstarchiv auf der Lubjanka in Moskau. Nur einmal war ich dort gewesen, in diesem monströsen Gebäude, dem Hauptquartier des Geheimdiensts, es war Mitte der neunziger Jahre, als ich ins Geheimdienstmuseum gegangen war, in der leichtsinnigen Hoffnung, der Geheimdienst würde Buße tun. Stattdessen erhielt ich Unterricht in Kontinuität und Abfolge von TscheKa, GPU , NKWD , KGB und FSB , erzählt wurde von heldenhaften Taten und von jenen schweren Zeiten, als »auch wir unter Repressionen litten«.
     
    Damals wusste ich noch nicht, dass auch mein Bruder versucht hatte, im Archiv an die Akten von Judas Stern zu kommen, und Kontakt zu einem Oberst der Lubjanka aufnahm. Der Oberst erklärte ihm, dass nur jene Fälle zugänglich seien, bei denen

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