Vielleicht Esther
seine Aufgaben und wurde fünf Jahre später als amerikanischer Spion angeklagt und erschossen. Ob Judas Sterns Geschichte das Geschehen beeinflusst hat, weiß man nicht. Die beiden Söhne, die, niemand weiß warum, genauso hießen wie mein Vater und sein Bruder, Miron und Wil, diese Doppelgänger meines Vaters und meines Onkels, verschwanden in den namenlosen Waisenhäusern der Sowjetunion.
Die Schürze
Der letzte Zeuge wird aufgerufen. Es ist ein Vorarbeiter aus der größten Textilfabrik des Landes, Rote Rosa genannt, zu Ehren von Rosa Luxemburg, Sterns letzter Arbeitsstelle.
Stern erinnert sich genau.
Am ersten Tag in der Fabrik hätte er eine Arbeitsschürze anziehen sollen. Er habe sich geweigert, sagt der Vorarbeiter aus.
– Sie ist dreckig, voller Läuse, sagt Stern. Ich möchte keinen Typhus.
– Sie ist nicht dreckig, entgegnet der Vorarbeiter.
– Doch, und wie!
– Sie wollen einfach nicht arbeiten.
– Doch, doch, ich will arbeiten. Aber ich will keinen Typhus.
– Alle tragen diese Schürzen. Niemand ist daran gestorben.
– Dreckig sind sie trotzdem.
– Wenn man arbeiten will, sind sie sauber genug.
– Und die Läuse, wollen die auch arbeiten?, fragt Stern, und der Vorarbeiter antwortet: Welche Läuse? Es gibt keine Läuse.
Das Gespräch fängt von vorne an, immer weiter im Kreis, es dreht noch eine Runde, und irgendwann ist es nicht mehr möglich zu verstehen, wer recht hat, Stern oder der Vorarbeiter, denn niemand von uns hat diese Schürze ge
sehen, die Schürze, die zum Sturz von Stern beigetragen hat.
– Also, werden Sie die Schürze anziehen?
– Kann man nicht ohne Schürze arbeiten?
– Haben Sie schon jemanden ohne Schürze hier gesehen?
– Und meinen Sie, dass niemand krank geworden ist?
Genosse Richter!, sagt Krylenko, jede Tatsache, jede Handlung, umso mehr eine Handlung vor Gericht muss irgendeinen Sinn haben, hinter jeder Handlung, hinter jedem Wort muss ein minimaler vernünftiger Sinn stehen, und er zeigt, dass alles, was Stern tut und sagt, keinen Sinn hat, er will ihn aber nicht für verrückt erklären, sondern erzählt mit leichtem Abscheu, spöttisch und unnötig detailliert von den schmutzigen Taschen in Sterns Mantel, als
wäre dieser Beweis gegen seine Sauberkeit auch ein Beweis für das Verbrechen. Er beschreibt genüsslich den Kleinkram, der in diesen Taschen gefunden wurde, und er sagt, dass er das Publikum damit verschonen wolle, dabei hat er bereits alles erzählt.
Stern lächelt, dann blickt er starr und verfällt in eine Art Ironie, als ob es ihm egal sei, dass vom Ausgang dieses Prozesses sein Leben abhängt, vielleicht auch, weil der Ausgang des Prozesses längst feststeht und er daher frei ist, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen.
– Warum hatten Sie dann einen Zeitungsartikel über ein Attentat in Japan in Ihrer Manteltasche. Zufall?
– Ich war allein, es gab keine Hilfe.
Vielleicht hatte Stern genug Gründe, sich zu weigern. Er konnte nicht mehr, er konnte diese Schürze nicht anziehen wie alle. Er war nicht alle. Das ganze Leben war für ihn wie diese Zwangsschürze. Unterordnung, Erniedrigung, Dreck. Er wollte und konnte sich nicht unterordnen, für die anderen Rollen fehlten ihm Kraft und Überzeugung. Sie wollen nur, dass ich gemeinsam mit allen Dreck schlucke, Dreck anziehe und Dreck produziere, mit Enthusiasmus und frohem Herzen! Erst zieht man die Schürze an, dann läuft alles von selbst. Ein richtiger sowjetischer Mensch zu sein bedeutet, sich jede Empfindungsfähigkeit abzugewöhnen. So einer bin ich nicht. In der Fabrik meinten sie, ich könne nicht arbeiten, wenn ich die Schürze nicht anziehen will, an der Fakultät meinten sie, ich wolle nicht studieren, weil man dafür in die Gewerkschaft gehen
muss, und das wollte ich nicht, sauber bin ich auf jeden Fall, im Vergleich mit dieser dreckigen kleinen Welt. Man muss etwas tun, zeig, sagten sie mir, zeig, was du kannst, ein Zeichen setzen, ich habe gezeigt, ich bin nicht einverstanden, mit nichts, ich, ich, ich …
Im Prozess versucht Stern immer wieder, das Wort zu ergreifen. Das wird durch Fragen und Unterbrechungen geschickt verhindert. Irgendwann gibt er auf, versinkt in Schweigen und verzichtet sogar auf ein Schlusswort. Das Urteil wiederholt Krylenkos Anklagepunkte, als gäbe es keine Widersprüche zwischen der Aussage Sterns und der Anklageschrift. Sterns Widerruf wird
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