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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Wer reitet so spät? Dein Vater Semjon, der Älteste, hält einen kleinen Knaben an der Hand, hält ihn ganz fest, er hält den kleinen Judas mit dem verstörten Blick, oder Jeguda, genau werden wir es nie wissen, er ist zwei oder drei Jahre
alt, dein Vater war zehn, aber er sieht älter aus. Hat dieses Festhaltenmüssen ihn älter gemacht? Ich werde dir nie von diesem Foto erzählen. Jegudas Blick sagt bereits alles, als wüsste er um seine Zukunft, als würde sich diese Zukunft in seinen mit Furcht und Verwirrung angefüllten Augen spiegeln, als hätte er die Gorgo Medusa gesehen, und, Papa, auch deine Angst um uns habe ich in seinen Augen gesehen.
    Der Prozess
    Am 4. April 1932 begann der Prozess. Mehr als 150 Menschen strömten am ersten Verhandlungstag in den Gerichtssaal – Volkskommissare und hohe Beamte, sowjetische Journalisten und Angehörige vieler Botschaften. Die ausländische Presse war vollzählig anwesend. Vor Gericht standen zwei Männer: Judas Mironowitsch Stern, 28 Jahre alt, ehemaliger Student der ethnographischen Fakultät, arbeitslos, und sein Mittäter, Sergej Sergejewitsch Wassiljew, 29 Jahre alt, aus wohlhabender Familie, ehemaliger Student der Moskauer Finanzakademie.
     
    Der Generalstaatsanwalt und Hauptankläger Nikolaj Krylenko hielt eine lange Rede über die Zustände der modernen Welt. Die Rolle des Verbrechens wuchs mit jedem Satz, so dass einem der Atem wegblieb, als würde man immer höher fliegen, denn der Fall ist so groß und unübersehbar, dass man fliegen muss, um sich einen Überblick zu verschaffen, und er redete und redete, und es schien,
als würde sich der Volkskommissar für Justiz von der Erde lösen, dann auch von der Justiz selbst, er befreite sich von den Beweisen, schwebte kurz über dem Materialismus, blickte aus großer Höhe hinab in die Windungen der Dialektik, und so geschah es, dass Generalstaatsanwalt Nikolaj Krylenko die himmlische Rolle eines omnipotenten Zeugen erlangte. Dort war er in seinem Element. Dann versetzte er sich in einen gezielten Sturzflug auf die Angeklagten. »Wir können dieses Verbrechen nicht als eine isolierte, in sich selbst ruhende Tatsache betrachten … Mit tausend Fäden … diese Tat mit ernsten und wichtigsten Problemen verbunden, von deren Lösung selbstverständlich nicht nur das Schicksal dieser beiden Menschen oder das Schicksal von Hunderten, sondern das Schicksal von Millionen abhängt und nicht nur in unserem Volk, sondern in vielen Ländern.«
     
    Als das Publikum bereit war, sich der Größe des Moments hinzugeben, stellte Krylenko eine polnische konterrevolutionäre Organisation vor, die aus den Lehrern Wassiljews und deren Familienangehörigen bestand. Er berichtete von Attentaten, die diese Gruppe geplant habe. Die meisten seien von der GPU verhindert worden. Deswegen höre das geschätzte Publikum nun überhaupt zum ersten Mal davon, denn alles sei verhindert worden, dank der Arbeit der Geheimdienste.
     
    Allerdings waren alle, die angeblich zu dieser Organisation gehörten oder von ihr wussten, tot, ganz nach dem Prinzip Nur ein toter Zeuge ist ein guter Zeuge .
     
    Beweise fehlten, und die Anklage entfernte sich immer weiter vom Attentat, wühlte sich ins Dickicht der subversiven Arbeit jener Organisation, deren Zeugen vom Geheimdienst getötet worden waren, weil sie ihr angeblich selbst angehört hatten, dabei waren sie höchstwahrscheinlich gezwungen worden zu gestehen, dass sie zu einer Organisation gehört hatten, über die außer dem Geheimdienst niemand etwas wusste. Sie legten Geständnisse ab, weil man sie sonst gleich getötet hätte, aber man tötete die Angeklagten sowieso, nur hätte man sie andernfalls länger gequält. Ein fragwürdiges Argument rief das nächste fragwürdige Argument herbei, und je fragwürdiger die einzelnen Teile dieser Konstruktion waren, desto glaubwürdiger erschien das Ganze.
     
    Nicht alle Mitglieder dieser polnischen Terrororganisation konnten bisher ausgerottet werden, merkte Krylenko nach seiner langen Rede über die dunkelsten Winkel dieser Organisation an, nur deswegen hat die Konterrevolution wieder Wurzeln geschlagen – und hier wird er feierlich die Stimme gehoben haben, denn Krylenko war von sich selbst und seiner Überzeugungskraft begeistert: »Dieses Attentat ist der Beweis.«
     
    Das Attentat diente als Beweis für die subversive Arbeit einer Organisation, deren Existenz nur dem Geheimdienst bekannt war, und das Gericht machte nicht einmal den Versuch,

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