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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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die polnischen Spuren und Sterns Attentat halbwegs miteinander zu verbinden. Obwohl es das einzige war, was wirklich stattgefunden hatte, wurde das Attentat zu einer Nebensache. Erst am Ende der Anklageschrift
taucht es auf: Wassiljew und Stern sollen politische Gespräche geführt und die Idee entwickelt haben, ein Attentat auf den deutschen Botschafter zu verüben mit dem Ziel, ihn zu töten und damit die Beziehungen zu Deutschland zu belasten, selbst einen Krieg in Kauf nehmend.

     
    Wassiljews Antworten sind kurz und klar, sein Auftreten ist heldenhaft. Mit seiner Entschlossenheit verschafft er sich Respekt beim Publikum. Mephisto nennen ihn die deutschen Journalisten, noch vom Goethejubiläum berauscht. Stern war mein Werkzeug, sagte Wassiljew, wenn nicht er, dann hätte ich jemand anders gefunden. Wassiljew der Kopf, Stern die Hand, Wassiljew der Strippenzieher, Stern die Marionette, Wassiljew ein entschlossener, Stern ein desorientierter Gegner, so steht es in allen Zeitungen der Sowjetunion, die ausländische Korrespondenten teilen diese Meinung.
     
    Er handele im Namen einer dritten Person, sagt Wassiljew, was Krylenko und das Publikum überzeugen sollte, es gehe um eine konterrevolutionäre Organisation, die Wassiljew jedoch nicht nennen wird, denn er ist ein Mann, der weiß, was Ehre heißt. Wassiljew wiederholt die Anklage von Krylenko fast wörtlich, als hätte er sie lange eingeübt, und Krylenko hört ihm mit Achtung zu, als wäre Wassiljew ein mutiger Feind, dessen Stärke er anerkennt.
     
    Während Krylenko und Wassiljew reden, wirkt Stern niedergeschlagen, so die Berichte, er hat bereits alle Geständnisse unterschrieben: Ja, er wollte, ja, er kannte Wassiljew, ja, den Botschafter, ja, um Beziehungen zu stören, ja, Krieg, ja, ja, ja.
     
    Doch als Judas Stern das Wort erteilt wird, um den Formalitäten Genüge zu tun, wendet er sich langsam zum Publikum, erfasst den Saal mit seinem schweren Blick und sagt aufgeregt und deutlich, ich ziehe alles zurück, weil das Verfahren mit nicht-europäischen Methoden durchgeführt wurde. Das hat niemand erwartet, und alle sind für einen Moment still, die Anklage, der Richter, Sterns Mittäter. Stern widerspricht allen Anschuldigungen, negiert seine früheren Aussagen, zieht seine Unterschriften zurück, widerruft sein Geständnis.
     
    Die ausländischen Zeitungen erregen sich wegen dieser nicht-europäischen Methode, alle verstehen, dass es Folter bedeutet, nirgendwo finde ich das Wort.
     
    Wenn die dritte Person, deren Auftrag Wassiljew ausführte, der Geheimdienst war, dann ist klar, warum Krylenko diese harmonische Zusammenarbeit zufriedenstellte, denn Wassiljew sollte als starker, unbeugsamer Feind auftreten und damit die Anklage unterstützen, er sollte einen Feind spielen, einen von vielen Feinden, einen, den der Geheimdienst gefasst hatte, und damit war er eine echte Marionette, ein Werkzeug des Schauprozesses. Auch Stern hatte vermutlich eine Aufgabe bekommen: Agent zu sein, ein, wie mein Großvater ihn sich vorstellte, unglücklicher Van der Lubbe. Stern aber war ungehorsam oder unfähig, gehorsam zu sein. Vielleicht hat er die von der GPU vorgegebenen Regeln gebrochen. Oder hat er allein gehandelt?
    Drei Autos
    In einer Prozesspause fragt der stellvertretende Außenkommissar Krestinsky den deutschen Botschaftsrat Hilger nach der Autonummer seines Privatwagens. Ohne Bedenken gibt Hilger ihm seine Nummer. Zehn Minuten später wird Stern vor Gericht gefragt, welche Autonummern der deutschen Botschaft er kenne – er nennt drei Nummern, darunter die von Hilger.
    Gustav Hilger, der die Gerichtsverhandlung verfolgte und kommentierte, der offizielle deutsche Übersetzer bei der  Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Paktes, der Mann, der die sowjetische Regierung am 1. September 1939 um 11 Uhr offiziell über den Überfall auf Polen informierte, der bis 1941 in Moskau blieb und Zeuge vieler wei
terer Prozesse und großer Verbrechen wurde, dieser Gustav Hilger gibt in seinen Erinnerungen Wir und der Kreml einen Einblick in die Methoden des Verfahrens und den Umgang mit dem Angeklagten Judas Stern. »Ich weiß mich aus meiner langen Praxis in der Beobachtung sowjetischer Schauprozesse auf kein anderes Beispiel zu besinnen, in dem die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwalt, Gericht und einer am Ausgang des Prozesses interessierten staatlichen Behörde in so eklatanter Form in Erscheinung getreten wäre, wie in diesem von einem stellvertretenden

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