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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Wassiljew seien GPU -Agenten gewesen, die den Auftrag gehabt hätten, Botschafter von Dirksen zu töten, aber kläglich gescheitert sind. Mit dem Mord hätten sie Deutschland zwingen sollen, ein Kriegsultimatum zu verhängen, die Vereinigung der Revolutionen in beiden Ländern hätte Krieg bedeutet, so Stalins Überzeugung. Den beiden sei versprochen worden, sie könnten untertauchen und würden mit neuen Pässen wieder in Freiheit kommen, aber erst nach einem ordentlich geführten Prozess, bis hin zu einer für die Presse und internationale Beobachter inszenierten Hinrichtung mit falscher Munition. Die Agenten Stern und Wassiljew sollten danach weiter für die GPU arbeiten. Und so stehen beide mit dem Gesicht zur Wand. In letzter Sekunde spürt Judas Stern, dass die Hinrichtung keine Inszenierung ist. Er wendet sich zu seinem Erschießer, ruft, Brüderchen! Was habe ich … und fällt tot um. Der Unbekannte berichtete über blutige Säcke, die aus der Butyrka abtransportiert wurden, bald darauf verschwand auch der Unbekannte selbst.
    Windrose
    Fast bin ich stolz, als hätte mein Großonkel eine Heldentat begangen. Wollte er mit seinen Schüssen einen Krieg zwischen der Sowjetunion und Deutschland provozieren? Oder wollte er alle kleinen Leute retten, das ganze elende Volk? Oder wollte er beides, als Marionette, als Agent, als freier Mensch, der zufällig Judas Stern hieß.
    Dreizehn Jahre später, am Tag der Befreiung, am Tag des Sieges über den Faschismus – und wir von dort, von der andere Seite, werden immer sagen, am Siegestag, und den 9. Mai meinen – am 8. Mai ist mein Vater dreizehn Jahre alt geworden, und wäre er noch jüdisch gewesen, hätte er an diesem Tag seine Bar-Mitzwa gehabt, die religiöse Mündigkeit, der Tag der Übernahme der Pflicht, ausgerechnet am Tag des Sieges über den Faschismus, doch er lernte das Wort Bar-Mitzwa und seine Bedeutung erst vierzig Jahre später kennen.
     
    Ich wollte mich immer mit der Geschichte beschäftigen, sagte mir mein Vater, aber ich wollte nie, dass sie sich mit mir beschäftigt, und er sagte auch, dass man keine Verwandten brauche, um einen Bezug zur Geschichte zu haben. Und ich sagte, doch, ich habe nun einmal diese Neigung, alles in ein großes Panorama zu stellen, als befänden wir uns selbst in der Windrose des Geschehens, wenn auch nur dank eines verrückten Verwandten, von dem wir nichts lernen können.

Kapitel 5
Babij Jar
    Ein Spaziergang
    –  Ich sage Ihnen ein Wort, und Sie sagen mir, was es bedeutet. Ja?
–  Okay.
–  Babij Jar.
–  Hat es was mit Indianern zu tun?
–  Nicht ganz.
–  Was denn?
–  Es ist eine Schlucht bei Kiew.
    Der nackte Mann auf dem Sportplatz.
Film von Konrad Wolf, 1974
     
    Lange war ich nicht hier. Babij Jar liegt nicht mehr am Stadtrand. Heute kann man mit der U-Bahn zur Schlucht fahren. Die Großstadt Kiew hat Babij Jar längst umschlossen. Eine Tuborg-Bude, ein Kiosk, das Denkmal für die getöteten Kinder. Auf dem Podest liegt eine kleine blaue Socke. Jemand hat sie verloren. Mir fehlt Sauerstoff. Sportlerinnen joggen, Jungen spielen Fußball, Männer trinken Bier auf den Bänken, und Rentner sammeln Flaschen ein – der ganz gewöhnliche städtische Stoffwechsel. Die Wohnungen in der Gegend sind nicht billiger als anderswo, denn Babij Jar ist ein Park. Ich suche hier meinen Weg. Babij Jar. Weiberschlucht. Ein seltsam niedlicher Name. Meinen Sie Baby Jahr?, hatte mich eine Bibliothekarin in Berlin gefragt, als ich mich nach Büchern erkundigte. Aber nein, ich werde mich hier nicht verirren, ich habe mehrere Stadtpläne dabei, sogar eine Karte für die Sport-Orientierung in Babij Jar vom Jahr 2006 habe ich mit.
    Bleibt ein Ort derselbe Ort, wenn man an diesem Ort mordet, dann verscharrt, sprengt, aushebt, verbrennt, mahlt,
streut, schweigt, pflanzt, lügt, Müll ablagert, flutet, ausbetoniert, wieder schweigt, absperrt, Trauernde verhaftet, später zehn Mahnmale errichtet, der eigenen Opfer einmal pro Jahr gedenkt oder meint, man habe damit nichts zu tun?
     
    Vor vielen Jahren fragte ich David, einen Freund, der immer an jenem Tag nach Babij Jar ging, ob er Verwandte hier liegen habe. Er sagte mir damals, das sei die dümmste Frage, die er je gehört habe. Erst jetzt verstehe ich, was er meinte. Denn es ist unwichtig, wer man ist und ob man hier eigene Tote zu beklagen hat – oder wünschte er sich, dass es unwichtig sei? – für ihn war es eine Frage des Anstands. Ich möchte

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