Vielleicht Esther
Außenkommissar persönlich hervorgerufenen Zwischenfall.«
Zufall
Nach der Pause beginnt das Duell zwischen Krylenko und Judas Stern.
– Der Bürger Stern hat gemurmelt, nicht-europäisch, aber was europäisch oder nicht-europäisch ist, wird nicht klar. Warum aber wollte der Bürger Stern auf den deutschen Botschafter schießen?
– Es war Zufall. Ich wollte auf irgendeinen Botschafter schießen, und ich wohnte in der Nähe.
– Wie landeten die Kugeln im Auto?
– Zufällig. Ich bin den Kugeln nicht nachgeflogen.
– Und diese vier Kugeln sind auch Zufall?
Krylenko zeigt auf Fotografien des durchlöcherten Botschaftswagens.
– Fragen Sie doch die Kugeln selbst! Ich bin kein Artillerie-Experte.
Die 150 Leute lachen von Herzen. Stern lächelt. Ich lache, wie alle im Saal, bekomme aber eine Gänsehaut. Ich erkenne unseren Familienstil. Ein Witz ist wichtiger als eine richtige Antwort, das Wort ist mehr wert als das Ergebnis. Lieber ein Clown sein, als Regeln zu akzeptieren, die man nicht respektiert. Der Witz, die Waffe der Ohnmächtigen. Wollte Stern auf die Farce hinweisen, die sich hier vor aller Augen abspielte?
Der prächtige Gerichtssaal, die lachenden Gesichter. In der Mitte ein unsicherer Mensch mit schwarzem, funkelndem Blick, der stockend spricht und der von allen, die darüber schreiben, als lächerlich und labil beschrieben wird, sein Gesichtsausdruck wechselt zwischen dumpfem Brüten und schiefem, einfältigem Lächeln. Ein Meschuggener?
Er habe allein gehandelt, sagt Stern. Er habe zufällig auf den deutschen Botschaftsrat geschossen, es hätte auch ein anderer sein können. Sie wissen doch, die ethnographische Fakultät liegt ganz in der Nähe, sagt er immer wieder, dort habe ich studiert. Stern macht weiter, er schiebt alles auf den Zufall. Ja, Zufall.
Wenn alles geregelt ist, wenn alles nach Plan läuft, wenn sogar fünf Jahre Industrialisierung in vier erledigt werden sollen, so dass hier im Lande alles nach Plan schiefgeht, dann ist der Zufall ein Zeichen, Stern wollte auf irgendjemanden schießen, ein Zeichen setzen.
Stern verteidigt sich nicht, er möchte nur die Unabhängigkeit seines Willens verteidigen und widerspricht der Anklage, er widerspricht dem Widersprochenen und verliert den Faden, oder es scheint nur so, weil man selbst nicht sicher ist, ob etwas, was wir heute hören können, in der Tat dort geschehen ist.
Zufall, Zufall, sagt Judas Stern. Protest, Protest, sagt ein Jahr später van der Lubbe.
Der Schleier ist so dicht, dass ich anfange, daran zu zweifeln, ob Stern überhaupt geschossen hat. Und dann wendet er sich um und fragt Krylenko:
– Wann schicken Sie mich in die Welt der unorganisierten Materie?
Marias Tränen
Seine ältere Schwester, Maria, aus Leningrad wird als Zeugin vorgeladen. Sie bahnt sich einen Weg durch den Gerichtssaal, sucht ihren Bruder in der falschen Ecke, in den Reihen der Zuschauer, als wüsste sie nicht, wer hier angeklagt ist, sie verirrt sich im Saal. Die Anwesenden spüren den Hauch eines Familiendramas. Es wird plötzlich still. Sie weint. Als sie endlich ihren Platz gefunden hat, gibt ihr Krylenko ein Glas Wasser. Alle warten, das Publikum schweigt. Sie fängt an, schluchzend von ihrem Bruder zu erzählen, von seiner Kindheit, von seinem Scheitern. Er sei ein ewiger Verlierer. Er sei ein schlechter Schüler gewe
sen, ein schlechter Bruder. Sie sagt, er war schon immer ein böses Kind.
Die Korrespondenten berichten von Marias Tränen, von der Stille im Saal, von Judas' Blick. Stern sitzt auf der Anklagebank und schaut seine Schwester unverwandt an. Maria weint und spricht weiter. Für die Revolution sei er zu spät dran gewesen. Für sein Studium habe er nichts getan. In der Fabrik habe er auch nicht arbeiten wollen. Den Revolver habe Judas ihrem Mann gestohlen. Ihr Bruder sei nie ein Sowjetfreund gewesen. Immer habe er ins Ausland gewollt, sagt sie weinend.
Ich lese das Protokoll und merke, dass meine Geduld zu Ende geht. Weint sie, weil sie die Wahrheit sagt oder weil sie lügen muss?
Maria hat Judas nur kurze Zeit überlebt, aber an ihrem Tod war er nicht schuld. Ihr Tod war ein Zufall. Sie sollte ihren Mann, dem Judas Stern die Pistole geklaut hatte, auf einer Reise nach Amerika begleiten, im Auftrag der sowjetischen Handelskammer, sie unterzog sich einer medizinischen Untersuchung, an deren Folgen sie starb. Ihr Mann fuhr allein nach Amerika, erledigte
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