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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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ignoriert, als habe Stern nichts gesagt, als sei er nicht anwesend, als gebe es keinen Stern. Wassiljew hingegen hatte seine harte Rolle aufgegeben und bekannte sich schuldig, auch Stern bekannte sich schuldig, denn er hatte geschossen, wenn auch nicht im Sinne der Anklage.
    Am übernächsten Tag wurden Stern und Wassiljew erschossen.
    Selbsterhaltungstrieb
    Kiew, den 14. Juli 2013
    Liebe Katja,
     
    vielen Dank für die Kugeln. Deine Gedanken fliegen direkt in die Wunden (so sagen die Kugelwissenschaftler). Wir sollten noch und noch über sie sprechen. Wir können auch schießen.
     
    In dieser Geschichte fasziniert die Einfachheit des Prozesses, denn es ist in der Tat eine griechische Tragödie, wo das Finale für jeden, der weiß, »wie es war«, von vornherein und auf jeden Fall feststeht.
    Sie wurden alle erschossen. Die Frage, wie sie genau erschossen wurden, quält uns immer noch, und vielleicht gerade deshalb, weil wir alle, so scheint es, verstehen, dass es keine Hoffnung gab. Aber unser Held glaubt immer noch daran, hofft darauf, ein Insekt dreht seine Runden im Glas, als wäre es noch in Freiheit, als würde es nicht merken, dass es gefangen ist. Man kann jetzt sterben, man kann später sterben, es gibt keinen Unterschied. Genau diese unerwarteten Ausbrüche von Stern und von Dir, seine Hektik vor dem Tod, jede Hoffnung, selbst wenn es nur die Deine ist, sind das Interessante, Merkwürdige und Quälende, und hier beginnt die Literatur und endet die Geschichte. Wofür brauchst Du diesen Menschen, wozu rührst Du seine Asche auf? Und wie ist es, mit ihm verbunden zu sein?
     
    Dein Text sei der verzweifelte Versuch, diese Verbindung herzustellen, sagst Du. Aber ob es klappt? Der Selbsterhaltungstrieb wacht und beobachtet uns in diesen Minuten scharf.
    Messerklingen kommen aus der Wand und bewegen sich, nicht weit vom Körper entfernt. Sie hängen irgendwo, und manchmal gleiten sie ganz nah heran, und Du beschreibst sie theoretisch (ich kann nicht einmal das), aber Du kannst diesen Schrecken und das Grauen ihrer Anwesenheit nicht wiedergeben, weil wiederzugeben bedeutet, es anzuerkennen und in sich einzulassen. So schlimm sind diese Sachen.
    …
    Deine Z.
    Vergiss Herostratos
    Der deutsche Botschafter Herbert von Dirksen, dem, wie viele meinten, das Attentat galt, war überzeugt, dass mein Großonkel allein gehandelt hatte. Er verglich Judas Stern, diesen, wie er meinte, unreifen, haltlosen und eitlen Menschen, mit Herostratos, jenem Bürger von Ephesus, der in seiner Ruhmsucht, seinem Streben nach Unsterblichkeit, den Artemis-Tempel anzündete, um seinen Namen in der Ewigkeit zu hinterlassen. Obwohl es danach verboten war, seinen Namen zu nennen, schrieben Historiker über ihn, sein Fall machte ihn zum Typus, und sogar das Datum des Verbrechens ist überliefert, denn irgendwann stellte man fest, dass in der Nacht, als Herostratos den
Tempel anzündete, Alexander der Große geboren wurde. Judas Stern wurde noch vor dem Verbrechen zum Typus, über ihn schrieben die Zeitungen, die von anderen Ruhmsuchenden und Protestierenden gelesen wurden, vielleicht auch von van der Lubbe.
     
    Während sie noch über die Defizite der sowjetischen Justiz berichteten, über »Sühne ohne Klärung«, pries die russische Emigrantenpresse den Attentäter Stern: »Ein Held, der allein gegen die Sowjetmacht demonstriert hat und der eine neue russische Intelligenzija verkörpert.« Von Paris bis Harbin wiegte man sich noch immer in der Hoffnung, dass die bolschewistische Macht vorübergehend sei, man irgendwann zurück nach Hause käme, dass Stern einer unter Tausenden von Menschen sei, die mit der sowjetischen Willkür nicht einverstanden waren und die nun an die Öffentlichkeit treten würden, um zu protestieren.
     
    Sein Attentat hatte Wellen geschlagen, aber Stern hatte keine Helden erzeugt, sondern den Dschinn aus der Flasche gelassen. Pawel Gorgulow, ein russischer Emigrant in Paris, auf der Suche nach Gerechtigkeit, befeuert von den Presseberichten, schoss am 6. Mai 1932 während der Pariser Buchmesse auf den französischen Präsidenten Paul Doumer und verletzte ihn tödlich. Ganz Frankreich war schockiert: Es hatte den Emigranten Obdach gegeben, und einer von ihnen tötete ihren Präsidenten. Gorgulow war ein Offizier ohne Staat, ein Arzt, der nicht praktizieren durfte, und ein Literat, der seine Werke unter dem russischen Pseudonym Bred , Delirium, verfasste.
     
    Das Herostratos-Syndrom verbreitete sich unter

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