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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Niemand an, zu meinem eigenen Nutzen. Jahre meiner Kindheit verbrachte ich sitzend auf diesem schönen Kiewer Hügel, oberhalb der wichtigsten Straße der Stadt, direkt über dem Majdan. Dienstag, Donnerstag, Samstag: Ballett. Mittwoch, Freitag, Sonntag: Chor. Auf dem Hügel zwischen altertümlichen Kastanien und duftendem Gebüsch, auf einer kleinen Lichtung, stand ein Paradiesapfelbaum. Winzige bittere frische Äpfel, die wir mit einem Biss aufaßen, samt Kerngehäuse. Im Frühling war der ganze Abhang voll mit wilden Veilchen. Mitten in der Stadt siegte die Natur, sie siegte, und ich verbrachte die besten Stunden der Langeweile auf diesem Hügel, und später, viel später, hörte ich ein Lied, das genauso anfing, »Sitzend auf einem schönen Hügel«.
    Als ich dieses Lied zum ersten Mal hörte, erfuhr ich, dass mein Palast in den dreißiger Jahren die zentrale Folterkammer des NKWD gewesen war, Tausende wurden hier
erschossen. Mein schöner Hügel driftete von mir weg, durchnässt mit karminroter Farbe, gedüngt mit bitteren Paradiesäpfelchen, die mir jetzt aus nichts als Blut zu bestehen schienen. Erschossen wurde auf der anderen Seite des Hügels, erklärte mir vor kurzem ein Historiker, als wären dadurch meine Äpfel rein und unbefleckt geblieben und ich vom Sündenfall verschont. Immer wenn ich an Paradiesäpfelchen denke, spüre ich einen Nachgeschmack, als wären auch die Äpfel im Garten meines Großvaters mit fremdem Blut kontaminiert. In den dreißiger Jahren war er bereits in der Landwirtschaft tätig gewesen, als in der Folge der Kollektivierung die große Hungersnot ausbrach, die ganz nebenbei die Bauernschaft ausrotten sollte – und er, so sachkundig und eifrig, dass er es zum stellvertretenden Leiter der Kiewer Region im Bereich Viehzucht brachte, gerade in der Zeit, als das segensreiche Land der schwarzen Erde zu sterben begann, er, der die Tiere und die Erde so sehr liebte – hat auch er sich schuldig gemacht?
     
    Auf dem Rain im Garten meines Großvaters wuchsen riesige weiße Himbeeren, wie ich sie noch nirgendwo gesehen habe. Es gab rote Rosen und weiße Rosen, und es gab keinen Krieg. C hinesische Teerosen und Sterne des Oktobers, Die große Liebe und viele, deren Namen ich nicht kannte, auch Gloria Dei , ich dachte, Dei sei der Familienname einer schönen Dame, auch Gamburg  – wo ist Gamburg? – und natürlich Dolce Vita . In der Mitte dieses Rosariums stand mein Großvater neben seinem kleinen Wärterhäuschen. Und wenn ich mich jetzt daran erinnere und in dieses duftende und summende Gartenreich einzutreten versuche, gelingt es mir nicht, ich sehe nur das gerahmte Bild,
die Rosen, die Büsche, die Himbeeren und den Paradiesapfelbaum. Ich versuche, meinen Kopf in dieses Bild zu stecken wie Alice im Wunderland mit ihrem Ich möchte in den Garten! Nur noch in diesen Garten, der mit allen Märchen der Welt verschmolzen ist, mit seinen geheimnisvollen Pfaden und Spuren unbekannter Tiere. Der Name der Rose, Gloria Dei, a rose is a rose, Dolce Vita .
     
    In der Mitte des Paradieses am Rain steht mein schweigender, lächelnder, glücklicher Großvater und bestellt seinen Garten.
    Freitagsbriefe
    Vom Ufer her hörte ich eine Stimme »Komm, komm, Russ«, und ich sah einen deutschen Soldaten, der seine Waffe auf mich gerichtet hielt. Ich bat ihn: »Bitte töte mich nicht, meine Mutter hat nur mich«; ich sprach Russisch, er verstand mich nicht, hatte einfach Mitleid, jedenfalls schoss er nicht und half mir aus dem Wasser ans Ufer, dann wartete er, bis ich mich ein wenig erholt hatte, und führte mich zu den anderen Gefangenen. So begann das Leben in den Nazi-Lagern.
     
    Jeden Freitag bekomme ich einen elektronischen Brief von einem sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Übersetzung, eine E-Mail aus einem der vielen Verteiler, die meine Mailbox überschwemmen. Die Briefe wurden in den letzten Jahren geschrieben, gesammelt, meist ehren
amtlich übersetzt und dann durch den Verteiler verschickt, durchnumeriert wie die Gefangenen. Mehr als fünf Millionen sowjetische Kriegsgefangene gab es, zwei Drittel sind umgekommen.
     
    Jeden Morgen wachte man auf und hatte auf beiden Seiten Tote liegen. Wer noch lebte, der stand auf und ging zur Arbeit, und die Toten wurden alle in eine Grube geworfen.
     
    Dann fand sich dort ein gutherziger Bauer, der mich mitnahm. Die ersten Tage gab er mir eine leichte Arbeit und ich wurde gut verpflegt, so dass ich schnell zu Kräften kam. Der Bauer hieß

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