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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Heinrich S.
     
    Während der ganzen sechstägigen Fahrt bekamen sie nur einmal einen Eimer Wasser für den ganzen Waggon … Als sie ankamen, war die Hälfte der Gefangenen bereits gestorben … Sie hetzten Hunde … Ein Wächter warf sich für einen Gefangenen in die Bresche … am Rand eines ausgehobenen Grabens aufgestellt … Die Ärzte, die dort waren, sagten »Ach stirb doch einfach«. Ich hasste das totalitäre Regime des pockennarbigen Georgiers, aber gegen meine eigenen Leute zu kämpfen fand ich nicht verlockend … 50 Gramm Brot mit Holzspänen … irgendwann erreichten wir Wriezen … »Toni, Deutschland ist ein musikalisches Land. Erzähl mir bitte, wer ist Leo Blech?«
     
    Die elektronischen Briefe werden zwischen fünf und acht Uhr morgens verschickt, jeden Freitag einer. Seit ich ein iPhone habe, lese ich diese Briefe morgens im Bett. Facebook-Meldungen von Nachtschwärmern treffen auf den
Morgengruß eines Kriegsgefangenen. Wer liest diese Briefe zusammen mit mir, jeden Freitag früh um sieben im Bett, wer teilt mit mir mein Freitagsritual?
     
    Dutzende, Hunderte Ortschaften werden genannt, Königsberg, Nürnberg, Küstrin, Bielefeld, Hannover, München, Bochum, Graz, Straßburg. Jeden Freitag hoffe ich, einen Brief zu bekommen, in dem die Stationen meines Großvaters genannt werden: September 1941 Kessel bei Kiew, anderthalb Jahre Dulag Wladimir-Wolynskij, ab Sommer 1943 Stalag XVIII in St. Johann im Pongau, ab 8. März 1945 Mauthausen, ab 25. März 1945 Gunskirchen. In zwei Briefen wird St. Johann erwähnt, in einem Wladimir-Wolynskij in der Westukraine. Dort starben im ersten Winter fast alle, aber mein Großvater nicht.
    Perlen
    Weil ich vom graden Weg mich abgewandt
    Dante
     
    Auf der Mauthausener Registrierungskarte meines Großvaters Wassilij Owdijenko mit der Nummer 137 616 steht »Russ. Zivilist« und nicht »Sowjet. Offizier«, als seine Ehefrau wird Natalia Hutorna genannt und nicht Rosalia Krzewina, und statt Kommunist steht »russ. orthodox«. Nur die Adresse stimmt, Institutskaja 44. Mein Großvater wollte überleben, und er war konsequent. Ich suchte nach dem ehemaligen Stalag für Kriegsgefangene bei Salzburg
und nach dem Russenfriedhof, und ich führte einen ungleichen Kampf mit dem Internet und seinen Ferienangeboten. Zwar gab es die Orte, die ich suchte, doch dort befanden sich Wanderwege, Schwimmbäder und Ferienhäuser für die ganze Familie. Es gibt eine Route für Verliebte und Routen für Familien, und wenn es Ferienhäuser gibt, muss man auch eine Familie haben, um ein Ferienhaus zu füllen, besonders in Österreich. St. Johann im Pongau, fünfzig Zugminuten von Salzburg entfernt. Ein Ferienhaus, noch ein Ferienhaus, Badespaß.
    Ich reiste allein, und ich hatte die Absicht, das Land, das sich vor mir ausbreitete, zu ignorieren. Ich durfte nicht mehr sehen, als mein Großvater damals sehen konnte.
     
    Vom Stalag wurde er im März 1945 durch die Salzburger Stapo nach Mauthausen überstellt, dann kam er, ein Ukrainer namens Owdijenko, nach Gunskirchen, zusammen mit Bourdier, Kurtág, Zibulski, Brioni, Holländer, Borchuladze: ein Franzose, ein Ungar, ein Pole, ein Italiener, ein Deutscher, ein Georgier – eine exemplarische Internationale, die am 25. März 1945 das überfüllte Lager Mauthausen verließ und nach Gunskirchen marschierte, 55 Kilometer zu Fuß. Eine irritierende Internationale, als hätten die Träume von Verbrüderung und Vereinigung ihren Höhepunkt im KZ erreicht, als habe nur das KZ sie ermöglicht. Damals, als Auschwitz schon befreit war, war man im kleinen Lager Gunskirchen immer noch mit dem Aufbau beschäftigt. Ende April gingen ungarische Juden von Mauthausen nach Gunskirchen den gleichen Weg, den mein Großvater kurz zuvor gegangen war, der Todesmarsch der ungarischen Juden, zwei Wochen vor Kriegsende.
     
    Ich gehe durch das Land wie ein Wanderer, träume wie ein Vagabund, somnambul, mit einem Quersack, fröhlich, schwebend, leer für die Zukunft, aber mit einer leisen Ahnung, dass ich für etwas bestraft werde, vielleicht für diese Leichtigkeit, als wäre mein fröhlicher Gang nur eine Folge davon, dass damals, vor vielen Jahren, hier etwas passiert ist. Ich gehe zu Fuß, gemessenen Schrittes, wie man Gedichte schreibt, einem inneren Rhythmus folgend, denn alle russischen Gedichte über den Weg sind in fünfhebigen Jamben geschrieben, Vy-cho-shu-o-din-ja-na-do-rogu / Einsam geh' ich auf dem Weg.
     
    In diesem Traum war ich so

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