Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
„Wie zum Teufel ist er da dran gekommen?“
„Es hat in der Küche ausgeholfen.“
„Was zum Teufel hat er in der Küche zu suchen?“
„Er sollte dort frisch gewaschene Handtücher hinbringen.“
In mir kroch eine gemeine Bemerkung hoch, aber ich sprach sie nicht aus. Ich nickte nur und fragte: „Hat er tatsächlich Dr. Koman gesagt?“
Die Pflegerin hatte kaum noch Atem und hechelte: „Hat er.“
Wir betraten Trakt 3 und liefen den Gang entlang. Der war leer. Alles verschlossene Zimmer. Als wir um die Ecke rannten, sah ich einen Auflauf von Pflegern und Ärzten, die vor Zimmer 23 verharrten und hineinblickten. Chris hatte sie alle unter Kontrolle. Wieder mal. Irgendwie schaffte er es immer wieder, alle in Angst und Schrecken zu versetzen. Seine Methoden wurden immer brutaler. Es würde nicht mehr lange dauern, und er bekäme die stärksten Beruhigungsmedikamente, die für ihn zugelassen werden.
Mittlerweile graute mir kein Anblick mehr, den Chris bieten würde. Und so stieß ich das Personal bei Seite, um in das Zimmer zu gelangen. Ich musste dennoch tief Luft holen. Da stand der Knabe auf seinem Bett, hatte sich irgendwo am vorderen Haaransatz einen Schnitt zugefügt und hielt nun dieses Messer stichbereit an seine Hauptschlagader. Überall war Blut. Es lief über sein Gesicht, tropfte auf seine Schultern und verschmutzte das Bett. Kerl, dachte ich nur, hast‘ wieder Malfarbe gefunden.
Als Chris mich sah, schmiss er das Messer weg, sprang vom Bett, lief mir in die Arme und schluchzte: „Dr. Koman!“
Ich hätte so gerne Bob gesagt, aber ich hütete mich. Zeitgleich sprang das Personal ins Zimmer, nahm das Messer an sich und versuchte, Chris von mir wegzuzerren. Eine Pflegerin hielt eine Spritze für ihn bereit. Ich schrie wie von Sinnen: „Finger weg!!“ Es war so laut, dass alle entsetzt zurückwichen. Mein Blick war böse. Chris klammerte sich wie ein Ertrinkender an mich. Ich hörte ihn weinen. Überall an mir war sein Blut. Vorsichtig durchfuhr ich sein Haar, um die Wunde, die er sich zugefügt hatte, zu finden. Ziemlich weit vorne am Haaransatz fand ich einen fünf Zentimeter langen Schnitt. Genau richtig, um möglichst viel Blut über sein Gesicht laufen zu lassen. Es musste gruselig wirken. Da wohl niemand wusste, dass Chris kaum Schmerzempfinden hatte, waren alle von dem Anblick geschockt.
Ich rief: „Hat jemand eine Mullbinde?“
Ein Arzt lief zum Verbandszimmer. Dann rief ich: „Kann jemand Dr. Brinkham rufen? Die Wunde muss genäht werden.“
Eine Pflegerin griff zum Handy und rief an.
Immer noch traute sich niemand den Jungen anzurühren. Mein Schrei musste sie sehr verschreckt haben.
Judith, die Pflegerin, die mich geholt hatte, sorgte wieder für Ordnung.
Sie schickte das Personal wieder auf die Station zurück und blieb alleine bei mir. Ich löste Chris' Griff um meine Taille behutsam und setzte mich mit ihm aufs Bett. Mir war egal, wie verschmutzt es aussah.
„Ich werde das Bett gleich neu beziehen“, sagte Judith, und ich nickte ihr dankbar zu.
Dr. Brinkham erschien, sah mich und rief genervt: „Was machen Sie denn hier! Das ist doch gar nicht Ihre Station!“ Mal wieder war ich bereichsübergreifend tätig . Judith wollte etwas sagen, doch ich signalisierte ihr, ruhig zu sein.
Brinkham kniete sich vor Chris und besah sich die Wunde. Ich drückte Chris die rechte Hand und signalisierte ihm, Vertrauen zu haben. Chris ließ die Wunde widerstandslos reinigen und nähen. Ich half ihm, sich anschließend der Kleidung zu entledigen. Brinkham verschwand, bemerkte aber kurz zuvor: „Das wird Folgen haben!“
Ja, ja, dachte ich, verschwinde, Arzt.
Als Chris sich komplett ausgezogen hatte, sah ich, dass sein Körper voller Blessuren und blauer Flecken war, außer am Rücken.
„Chris“, sagte ich entsetzt, „was ist passiert?“ Ich drehte ihn vor mir.
„Es ist schwer hier“, sagte er nur.
Das letzte Mal, als ich ihn so sah, war er gerade ins Heim bei Mr. Mintz eingeliefert worden. Damals war er von dem Lebensgefährten seiner Mutter so übel zugerichtet worden. Wie Chris immer so schön sagte: in Grund und Boden geprügelt. Doch wer war es diesmal gewesen?
Ich ging vor Chris in die Knie und reinigte sein Gesicht mit einem feuchten Lappen, den mir Judith gereicht hatte.
„Chris, sieh mir in die Augen.“
Chris sah mich an. Seine dunkelbraunen Augen glänzten wie Bergkristalle.
„Sag mir jetzt ganz ehrlich, wer dir diese Verletzungen zugefügt hat. Warst du es selbst oder war es ein
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