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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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über die ganze Sache mit Pilburg und Henry nicht im Bilde. Also sagte ich: „Ich wollte Henry mit dem Problem nicht direkt überall herumschicken. Er ist zu mir gekommen, und wir haben es schnell erledigt. Henry ist zur Zeit sehr sensibel.“ Ich bin schließlich Psychologe, wollte ich noch sagen.
„Ach“, sagte sie. „Gestern war er noch ganz munter mit Ihnen am schaukeln. Sie haben sich viel mit ihm beschäftigt.“
Was sollte das heißen? Sie hegte doch nicht irgendwelche abwegigen Gedanken?
„Nein“, sagte ich, irgendwie zu schnell, zu entschuldigend. „Das sah nur so aus. Ich wollte ihn etwas aufmuntern. Er war verwirrt.“
Annie sah mich an. Ich machte alles noch schlimmer.
Durch die Glastür des Personalzimmers konnten wir Dr. Brisco und vier schwarz gekleidete  Männer vorübergehen sehen. Brisco musste ihnen wahrscheinlich die Station zeigen, auf der Chris jetzt lebte.
Ich blieb brav im Zimmer bei Annie. Durch die Glastür sah ich, wie mir Brisco einen kurzen Blick zuwarf, als wolle er sagen: Bleib schön da drin. Wage dich nicht hinaus.
Irgendwie hatten die Blicke von Dr. Brisco für mich etwas Parapsychologisches bekommen.
„Ist Chris schon in Trakt 3?“, fragte ich.
„Hab ich Ihnen doch gestern gesagt“, antwortete sie kurz und setzte sich an den Computer, um neue Eintragungen zu machen. Richtig, das hatte sie.
Als das schwarze Komitee außer Sichtweite war, schlich ich mich in mein Büro. Ich wollte mich auf den üblichen Tagesablauf vorbereiten. Es gab hier nicht nur Henry und Chris, die wir betreuten.
Annie hatte einen Stapel neuer Berichte in mein Fach gelegt, und ich begann mit Joshuah, einem 13jährigen Jungen, der an Schizophrenie leidet. Kaum hatte ich seine Akte erledigt, klopfte es an meine Tür. Ich bat um Eintritt, und Dr. Brinkham, unser Allgemeinmediziner, kam strammen Schrittes herein. Dass er die Tür hinter sich offen ließ, hatte unangenehme Folgen.
„Was geht in Ihrem Kopf vor, Koman!“, schalt er mich lautstark.
„Zuviel“, sagte ich schlagfertig. „Was davon meinen Sie?“
„Das denke ich auch! Ich sage nur Henry Miller! Was haben Sie an dem Geschlechtsteil von dem kleinen Henry Miller zu suchen?!“
Genau in dem Moment passierten Dr. Brisco und der Vorstand mein Büro. Mein Tag war zu Ende, bevor er begonnen hatte.
Ich fühlte mich wie in einem Irrenhaus. Nur, dass das Personal und die Patienten die Rollen vertauscht hatten.
    Dr. Brinkham ließ Dr. Brisco eine Beschwerde über mich zukommen. Ich wäre unerlaubt bereichsübergreifend tätig geworden. Es fehlte nur noch die Bemerkung: Und er war so komisch freundlich zu dem Jungen auf dem Spielplatz gewesen. Dann wären die Grundsteine für mich als Sexualtäter gelegt. Dazu noch die perfekte Umgebung. Ich sagte ja, es war ein Misttag.
Mittlerweile brauchte ich nicht mehr Chris, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Das schaffte ich nun ganz alleine.
Ich brauchte unbedingt ein Gespräch mit Dr. Brisco, um meine festen Aufgaben neu zu definieren. Ich hatte den Überblick und das Gefühl dafür verloren. Und das in weniger als vier Tagen. Ich begann, an mir zu zweifeln.
Ein Gespräch mit Jenny wäre gut gewesen. Doch ich hatte sie zwei Tage lang nicht mehr gesehen. Ob sie in Urlaub war?
Als Dr. Brinkham mein Büro wieder verlassen hatte, schloss ich meine Türe von innen ab und widmete mich den weiteren Unterlagen. Dabei konnte ich nichts falsch machen.
Nach drei Stunden schmerzten mir die Augen. Meine letzte Dokumentation galt Christopher Gelton. Er war von meiner Station entlassen worden. Ich schrieb: bis auf Weiteres zu Trakt 3 übergeben. Fall in Bearbeitung. Befund und Begründung folgen.
Als ich mein Büro endlich verlassen konnte, erledigte ich meine tägliche Gruppentherapiestunde, aß zu Mittag und betreute drei Jungen in Einzelgesprächen. Danach war meine Dienstzeit um, und ich packte meine Tasche für den Heimweg. Da kam Brisco auf mich zu. Das schwarze Komitee war inzwischen abgereist. Was mochte heute alles zur Sprache gekommen sein? Das wollte ich gar nicht wissen.
„Bob“, sagte Dr. Brisco, „ich bin für drei Tage weg. Danach müssen wir uns unterhalten.“
„Ja“, sagte ich und nickte. Das mussten wir.
„Dann werden wir weitersehen“, sagte Brisco. „Wie lange sind Sie schon bei uns?“
Ich überlegte. „Drei Monate? Dreieinhalb?“
Brisco nickte. Meine parapsychologische Verbindung zu ihm teilte mir mit: Da haben Sie aber ganz schön was zusammenkommen lassen. Aber er sagte: „Dr.

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