Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Brinkham hat mir eine Beschwerde über Sie auf den Schreibtisch gelegt.“
„Ich weiß, Sir,“ sagte ich, „ich ...“ Brisco unterbrach mich. „Das will ich jetzt gar nicht wissen. Wirklich nicht!“
Ich nickte. Vielleicht wollte er nach drei Tagen gar nichts mehr von mir wissen. Ich fragte kurz: „Irgendwelche Anweisungen für diese Tage? Ich meine, speziell für mich?“
Pilburg war auch nicht da. Ich würde ganz allein auf der Station sein.
„Nein“, sagte mein Chef. „Machen Sie einfach nur Ihr Programm …, aber lassen Sie um Himmelswillen die Finger von Dingen, die Sie nichts angehen. Und ...“, er hob drohend den Zeigefinger, „besuchen Sie um Gotteswillen nicht diesen Gelton. Verstanden?“
Jetzt hatte ich Anweisungen vom Himmel und von Gott selbst. Mehr ging nicht, und ich sagte: „Ja, Sir. Dr. Brisco. Sie werden keine Klagen hören.“
Danach sah ich meinen Chef drei Tage lang nicht mehr. Doch schon am nächsten Tag sollte ich ihn schmerzlich vermissen.
Der nächste Tag begann wieder mit dunklen Wolken und viel Regen. Fadenregen. Den liebe ich besonders! Keine Chance, ohne Schirm trocken von der Haustür bis ins Auto zu kommen. Da ich Schirme ablehne, wurde ich Zweimal nass, bis ich im Klinikgebäude war.
Jenny war noch nicht zu sehen. Pilburg war weg, Brisco war unerreichbar, es regnete in Strömen, und die Jungen auf der Station hatten Ferien. Alle langweilten sich. Als Dr. Pilburg, Jack, noch da war, unternahmen wir hin und wieder etwas mit den Jungen. Jetzt hatte ich 13 Jungen, vollgepumpt mit Medikamenten oder skurrilen Ideen. Das Pflegepersonal, bestehend aus zwei Leuten pro Schicht, war mir auch keine große Hilfe.
Musik, dachte ich. Wir sollten einen Musiktag einlegen. Ich überlegte mir, dass wir uns zunächst verschiedene Musikrichtungen anhören könnten und dann Musik selber machen.
Ich entwarf ein Konzept und besprach es mit dem Personal.
Es war eine gute Idee, und es klappte wunderbar.
Wir hörten uns zunächst Klassik an. Das kam nicht so gut an. Dann hörten wir Folkmusik. Das war auch nicht der Bringer. Aber bei Techno ging die Post ab.
Wir suchten alle möglichen Blechmaterialien aus der Küche und probten und spielten fast zwei Stunden lang eigenproduzierte Technomusik. Verschiedene Jungen tanzten, verschiedene klatschten oder entwarfen Texte, die sie zum Besten gaben. Ein Mordsspaß. So war das Leben ohne Chris auf der Station. Unkompliziert und harmonisch.
Dann kam eine Pflegerin auf mich zugelaufen und bat mich zu Trakt 3 zu kommen. Ich hob ablehnend die Hand. „Verbot von Chef.“
„Sie müssen aber“, sagte sie drängend.
Ich fragte, was los sei. Sie sagte, es ginge um Chris, aber sie könne hier nichts sagen, nicht vor den Jungen.
Was konnte in Trakt 3 so schlimmes passiert sein, dass man dort nicht Herr der Lage wurde? Alle, die dort arbeiteten waren auf Extremfälle eingerichtet. Und … wo war der zuständige Arzt?
Ich fragte: „Ist denn niemand dort, der den Kerl bändigen kann?“
„Nein, zur Zeit nicht. Das können nur Sie!“
„Nur ich?“, fragte ich erstaunt. „Ich habe striktes Verbot, Chris Gelton zu sehen. Vom Chef persönlich.“ Mir fiel ein: keine Besuche bei Chris Gelton. Dies war kein Besuch.
„Das spielt jetzt keine Rolle!“ Die Pflegerin wurde immer hektischer.
Ich zog sie aus der Hörweite der Jungen und fragte: „Was ist, verdammt noch mal, bei Euch los?“
„Chris will sich gerade hinrichten! Es will Sie sehen.“
Hinrichten? Hatte ich richtig verstanden? Wenn sie hinrichten meinte, war es mehr als ernst. Das klang nach einem ausgereiften Massaker, das Chris gerade inszenierte.
Ich aber sagte: „Ich kann unmöglich meine Station verlassen. Ich bin alleine hier. Das verstößt gegen jede Vorschrift.“
Die Pflegerin sah mich gequält an, und ich verstieß erneut gegen die Vorschriften. Man konnte den Verstoß dann zu den anderen Verstößen und Beschwerden über mich legen, die sich bereits auf Briscos Schreibtisch stapelten.
Wir liefen in Trakt 3. „Bekommt Chris Medikamente?“, fragte ich im Laufen.
„Ja, Olanzapin“, sagte die Pflegerin. Sie heißt Judith.
„Wie viel?“
„Doppelte Dosierung als üblich.“
„Schlägt die Menge an?“
„Gar nicht.“
„Das dachte ich mir. Was genau macht Chris gerade?“
„Er hat sich die Kopfhaut aufgeschnitten und hält sich ein Messer an die Hauptschlagader am Hals. Er sagt, er sticht zu, wenn er nicht Dr. Koman sehen darf.“
„Ein Messer?“, fragte ich, immer noch im Laufschritt.
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