Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
drein. Doch ich musste bei der Wahrheit bleiben und sagte: „Es steht im Personalbuch. Ich werde das alles auch dokumentieren. Genauso wie Sie. Genauso, wie es war.“
„Tun Sie das“, sagte Brinkham, und ich dachte mit Wehmut an seine Dokumentationen, die er Dr. Brisco daraufhin einreichen würde.
Als ich Chris wieder zurück in sein Zimmer brachte, hatte Judith das Bett bereits neu bezogen, den Boden geputzt und neue Kleidung für Chris bereitgelegt.
Ich sah mir dieses isolierte weiße Zimmer traurig an und wunderte mich, dass Chris die Wände noch nicht dekoriert hatte. Vielleicht waren die Medikamente doch beruhigend für ihn. Oder er hatte endlich aufgegeben, ständig Chaos zu stiften.
Als ich ihm beim Anziehen half, rieb ich verschiedene Stellen mit Heilsalbe ein und bemerkte, dass Chris einmal eine Rippe gebrochen hatte, die wie eine kleine Beule aus seinem Brustkorb hervortrat. Wie soll man da kein Mitgefühl entwickeln? Dieser kleine knabenhafte Körper, gesteuert von diesen monströsen Gedanken. Ich fragte mich, ob man ihm endlich etwas gegen seine sexuelle Neugier gab, doch ich fragte nicht weiter nach. Die Patienten auf dieser Station gingen mich nichts an. Ich tat sowieso schon zu viel bereichsübergreifende Dinge, die mir verboten waren.
Doch wo ich gerade mit Chris alleine war, konnte ich ihn nach dem Buch, das ich ihm gegeben hatte, fragen. Die Zimmertür stand zwar offen (ich durfte sie wegen eines möglichen Tumults nicht schließen), aber es war wichtig für mich, zu erfahren, ob und was er von dem Ausflug ins Camp nachgetragen hatte. Im Hinterkopf geisterten die Bilder eines gewalttätigen Dr. Brisco in mir herum, und ich dachte, dass es nicht schlecht wäre, wenn ich etwas in der Hand hätte.
Auf jeden Fall fühlte ich mich wirklich wie im Irrenhaus.
Chris saß sauber gekleidet, gekämmt und mit einem großen Druckverband am Kopf auf seinem Bett und schien sehr mit sich zufrieden.
Ich saß auf seinem Stuhl und sah ihn an. In dieser Minute schien die Welt für uns beide schwer in Ordnung, und ich erinnerte mich an so manche schöne Stunde aus dem Heim, als wir uns kennenlernten. Da saß Chris oft in meinem Büro und malte ganz friedlich.
Ich besah mir den Knaben und wurde wieder weich. Er sah so nett und vertrauenswürdig aus. Diese großen braunen Augen, die vor Lebensfreude sprühten. Wir beide waren ein seltsames Paar. Als wir uns ansahen, empfanden wir so etwas wie Brüderlichkeit. In mir rang das Verlangen, ihm wieder meinen Vornamen anzubieten. Aber ich holte mir Briscos Warnung Abgrenzung zum Patienten ins Gedächtnis. Dabei nannten mich alle Jungen auf der Station Bob. Nur bei Chris war mein Vorname tabu. Er war für ihn so etwas wie ein Code zu meiner Seele, ein Zugang zu meinem tiefsten Inneren. Wenn er Bob sagte, glitt er in mich hinein und wütete mit großer Zerstörung. Manchmal war dieses Wüten so groß gewesen, gerade während der Zeit des Heimaufenthaltes, dass ich über alle Maßen davon eingenommen war. Nicht mehr in der Lage, noch ein anderes Leben neben Chris wahrzunehmen.
Dieses Gefühl fing mich gerade wieder ein. Ich empfand es als angenehm und erschreckend zugleich. Da saß dieser kleine Kerl und schrie nach Liebe und Aufmerksamkeit und sämtlichen Varianten. Doch wer, in aller Welt, war in der Lage, das Maß, was er verlangte, geben zu können? Chris war ein 24-Stunden-Job.
Mir fiel auf, dass Chris keine Verletzungen im Gesicht hatte. Damit sah man die Misshandlungen zunächst auch nicht. Mir kam plötzlich eine neue Frage in den Sinn: Wer hatte die Aufsicht während des morgendlichen Duschens gehabt? Da fanden auch gerne mal Angriffe statt. Kam da nicht noch eine weitere Person neben Dr. Brisco ins Spiel?
Ich wusste, dass die Jungen auf dieser Station nur von männlichen Pflegern während des Duschens beaufsichtigt wurden. Wir alle respektierten, wie bei allen Jugendlichen, ihre körperliche Veränderung und ihre Pubertät.
Was wäre, wenn ich Chris jetzt nach dieser Pflegeperson fragen würde?
Ich konnte Realität und Lüge bei Chris nicht mehr unterscheiden. Er zog jeden unablässig in ein Minenfeld hinein. Ein falscher Schritt und … bumm! Wie bei Dr. Pilburg.
Inwieweit war es an der Zeit, Chris grundsätzlich nicht mehr zu glauben. Aber inwieweit durften wir zukünftige Täter, die hier herumrennen konnten, schützen?
Wie immer saß ich in einem Pool von Zweifel und Widersprüchen.
Ich sah Chris eindringlich an. War Dr. Brisco nun gewalttätig gegen ihn geworden
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